Analyse: Weltende

 

Viele der Expressionisten hatten das Gefühl, am Ende einer Epoche zu stehen. Diese Endzeitstimmung kommt in der Lyrik vor allem in den Motiven des Wahnsinns, des Todes und des Krieges zum Ausdruck. Die ersten beiden Motive weisen dabei einen direkten Bezug zur Großstadt auf, sie wurden in dieser Arbeit in anderen Kapiteln bereits angedeutet. Ein thematischer Zusammenhang zwischen der Darstellung der Großstadt und der des Krieges in den Gedichten besteht allerdings nur in geringem Maße.

Weltende wird wie das berühmte gleichnamige Gedicht von Jakob van Hoddis zum Fokus, auf den sich eine ganze Generation von Dichtern bezieht.

Aus diesem Grund soll das Gedicht hier aufgeführt werden, denn auch wenn es keinen ausdrücklichen Bezug zu Berlin hat, stammt es vom Anfang des expressionistischen Jahrzehnts, und seine Thematik und der Reihungsstil haben etliche Autorenkollegen nachhaltig sehr beeinflußt[277]:

 Weltende

   Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,

   In allen Lüften hallt es wie Geschrei.

   Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,

   Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.

   Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen

   An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.

   Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.

   Die Eisenbahnen fallen von den Brücken

   (Jakob van Hoddis, 1907/09).

 

Unter den Linden 1910

Die Aneinanderreihung ernster Katastrophen als unbekümmerte Darstellung verschiedenster Nachrichten bewirkt einen komischen Effekt. Diese Teilnahmslosigkeit des Registrierens scheint das Resultat einer Reizüberflutung des Individuums im modernen Großstadtleben zu sein. Die Abgestumpftheit der Menschen, Georg Simmel bezeichnet sie als Blasiertheit[278], wird auf diese Weise kritisiert, und die Komik offenbart sich als Grimasse. Das hier benannte Weltende stellt sich als Zeitdiagnose dar und fordert auf, die moderne Wirklichkeit in ihrer Totalität als Verhängniszusammenhang zu sehen.

In der Darstellung des körperlichen[279] aber auch des seelischen Zerfalls findet die von dem Einzelnen, aufgrund seiner Erfahrung mit der großstädtischen Zivilisation gefühlte, existentielle Bedrohtheit ihren Ausdruck. So lässt sich erklären, dass in der expressionistischen Lyrik die Identifizierung mit gesellschaftlichen Außenseitern, wie Kranken, Irren, Mördern und Selbstmördern geschieht.

G. Grosz: Krawall der Irren 1917Auf der einen Seite rücken die Dichter damit die Schattenseiten der Gesellschaft ins Licht, aber Peter Christian Giese merkt zu Recht an, dass in dieser Identifikation auch ein gewisser Anteil an Pose liegt, indem die Künstler ihre Sonderstellung hervorheben und betonen, dass es besser sei, ein Irrer als ein Bürger zu sein.

Das Motiv des Wahnsinns wurde literarisch bereits in der Romantik thematisiert, doch wo es damals noch um die Verwandschaft von Künstlertum und Geisteskrankheit ging, ist Wahnsinn im Expressionismus eng mit den Problemen des Ich-Zerfalls und der Großstadt verbunden.

In der Stadt, die sich für die Menschen als lebensfeindlich darstellt, wird der Zustand des Irre-Seins zum Gruppenschicksal.

In dem Gedicht „Die Stadt“ (1913) von Alfred Lichtenstein ist die Aussage des als irre bezeichneten Menschen in keiner Hinsicht als geisteskrankes Gefasel einzustufen:

    In einer Straße stöhnt ein Irrer: Du, ach, du -

   Wenn ich dich endlich, o Geliebte, fände...

   (V 7 u. 8).

Verrückt aus Liebe wäre eine logische Erklärung der so charakterisierten Person. Wahnsinn scheint die Großstädter heimzusuchen, deren Nerven schwächer sind als die der anderen Menschen. Die Stadt, als Ort des Untergangs, wird zum Auslöser von Nervenkrankheiten:

   Ein weißer Vogel ist der große Himmel.

   Hart unter ihn geduckt stiert eine Stadt.

   Die Häuser sind halbtote alte Leute[.]

   („Die Stadt“, V 1-3).

Dieser Zustand war nicht allein den Lyrikern vorbehalten, sondern konnte jeden Großstädter treffen.

Hier waren die Menschen von der Wirklichkeit bedroht, denn seit Nietzsche war auch ihr Glaube an religiöse oder sonstige ethisch-moralische Werte verloren gegangen. Was in „Die Stadt“ bereits zum Ausdruck kommt:

   Auf alles legt die grauen Puderhände

   Der Nachmittag, ein sanft verweinter Gott[.]

   (V 11 u. 12),

wird in der „Fahrt nach der Irrenanstalt 1“ (1912, A. Lichtenstein) Gewissheit: Gott ist tot.

   Ein Leichenwagen kriecht, voran zwei Rappen,

   Weich wie ein Wurm und schwach die Straße hin.

   Und über allem hängt ein alter Lappen -

   Der Himmel... heidenhaft und ohne Sinn[.]

   (V 9-12).

Auch außerhalb der Stadt gibt es für das lyrische Ich in Alfred Lichtensteins Gedicht „Fahrt nach der Irrenanstalt 2“ (1912) keine Erlösung:

   Zwei dünne Ziegen stehn in weiten grünen Räumen

   An Pflöcken, deren Strick sich manchmal straffte.

   Unsichtbar hinter ungeheuren Bäumen

   Unglaublich friedlich naht das große Grauenhafte[.]

   (V 5-8).

Die Natur wird in dieser Sichtweise abstrahiert und reduziert (V 5). Sie bietet keine Fluchtmöglichkeit mehr[280], und es scheint fast, als stelle der Autor statt der Hoffnung auf ein Entkommen aus den Zwängen moderner Zivilisation nur resigniert die Alternative auf die Einweisung in eine Irrenanstalt.

 

Die Endzeitstimmung der expressionistischen Dichter manifestiert sich des weiteren in der Darstellung des Krieges, wobei die lyrische Thematisierung des Krieges schon Jahre bevor der Erste Weltkrieg ausbricht, beginnt. In der Hauptstadt war die Angst vor einem Krieg bereits in den Jahren vor 1914 wichtiges öffentliches Thema, das in Zeitungsartikeln diskutiert wurde, und gegen den viele Menschen auf Straßendemonstrationen ihre Ablehnung offen zeigten.

M. Oppenheimer: Weltuntergang 1916

Paul Zechs Gedicht „Die nüchterne Stadt“ (1914) beschreibt dabei den morbiden Zustand der wilhelminischen Gesellschaft, wie er sich besonders in Berlin offenbart:

   die graue Stadt, die Stadt zermürbter Brücken[.]

   (V 2),

denn der von Oskar Loerke beschriebene moralische Verfall und die Dekadenzerscheinungen des preußischen Militärstaates,

   Aus Wirtshausfenstern wirbelt fetter Bratgeruch

   und Lustgebrüll aus hundert Singspielhallen.

   Wir müssen schnell die Riemen fester schnallen

   und ducken uns vor Fremdenhaß und Lästerfluch[.]

   (V 5-8),

lassen die herannahende Katastrophe einer kriegerischen Auseinandersetzung Deutschlands als unvermeidliche Konsequenz erscheinen. Das Gedicht endet in einem unheimlichen und bedrohlichen Szenario:

   Den Korso überwölkt Geheul von Schiffsfanfaren

   und Bahngeräusch bleit sich in unsre Nerven rücksichtslos.

   Aus Pflasterritzen wuchert Unkraut riesengroß.

   Verkrüppelt stehn paar Linden am Kanal.

   Verstimmte Glocken überwimmern Lust und Qual

   und nirgend sieht man Kinder, die sich um ein Spielwerk scharen[.]

   (V 9-14).

Der Schlussvers bekräftigt nochmal die in den Versen ausgedrückte Hoffnungslosigkeit, denn wo Kinder nicht mehr unbeschwert spielen können, ist auch eine friedliche Zukunft nicht mehr gegeben.

Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges wird das Weltende dann zur traurigen Realität.

Sah ein Teil der Expressionisten im Krieg zunächst die Erlösung von einer banaler Zeit[281], so wich diese Einstellung in dessen Verlauf sehr rasch einer realistischen, zynischen Ernüchterung; vor allem da viele Dichter bereits in der Anfangsphase an der Front fielen.

Titelblatt 1917Der Ruf nach einer brüderlichen Gemeinschaft und nach einer Erneuerung des Menschen wurde zunehmend den Bildern des Verfalls und des Untergangs entgegengestellt[282].

Nach der anfänglichen Einschätzung des Krieges als „kollektives Abenteuer“ beginnt 1916 das „pazifistische Erwachen“[283].

   Der Krieg fraß alle Männer weg,

   und Gott wiegt keinen Heller mehr,

   sein Bild verwest zu Blut und Dreck.

   Weiß keiner mehr, wohin, woher

   die schwarzen Wetterwolken jagen?

   Die Erde ist mit Fluch geschlagen

   und heult im letzten Bogenstrich

   von Morgenrot zu Morgenrot:

          Berlin, halt ein, besinne dich,

          dein Tänzer ist der Tod.

Diese Zeilen sind die letzte Strophe des Gedichtes „Berlin, halt ein...“ (1914/16) von Paul Zech.

Berlin wird in diesem Gedicht als ein Ort präsentiert, an dem sich die dem Krieg fernbleibenden Menschen mit Tanzvergnügen die Zeit vertreiben.

Diese Verdrängungstaktik bringt keine Erlösung in der Suche nach einem neuen Lebenssinn, und alles bleibt nach dem sinnlosen Töten im Krieg so trostlos wie vorher. Berlin wird in der Du-Anrede personifiziert, und damit im Stil einer Metonymie für alle Angesprochenen verwendet. Vereinfacht werden in dieser Anrede alle Berliner und, da es sich um die Hauptstadt handelt, auch alle staatlichen Institutionen angesprochen. Die Bedeutung Berlins als Stadt, die den Menschen einerseits Amüsement und ein ausgeprägtes Nachtleben bietet, aber andererseits politisch wie militärisch eine besondere Rolle im Ersten Weltkrieg gespielt hat, wird in „Berlin, halt ein...“ betont. Neben der appellhaften und pazifistischen Aussage des Gedichtes dominiert Hoffnungslosigkeit, die sich vor allem in der letzten Strophe ausdrückt, die Stimmung.

Der Einsatz moderner Massenvernichtungsmittel gab dem Krieg ein neues Gesicht, denn zum ersten Mal kamen Maschinengewehre, Fernartillerie, Bombenflugzeuge, U-Boote, Panzerwagen und Giftgas zum Einsatz im Kampf gegen gegnerische Staaten. Der Krieg wurde zu einem technischen Prozess.

Die großen Berliner Konzerne wie AEG, Siemens und Schwarzkopf werden zu wichtigen Rüstungsproduzenten und erleben nachdem sich der versprochene Blitzkrieg zu einer langandauernden Materialschlacht entwickelte, wirtschaftlich goldene Zeiten, während Lebensmittelknappheit und steigende Preise die Versorgung der Zivilbevölkerung immer schwieriger machte.

Max Herrmann-Neiße beschreibt in seinem Gedicht „Türme in der großen Stadt“ (1914) den Eingriff der Technik ins Privatleben, der zunächst am Großstadtverkehr zu spüren ist (V 8 u. 10), sich aber im Krieg als Vernichtungsmaschinerie offenbart:

   und wie Henkerstühle

   stehn Plätze; Drähte sind wie Mördernetze da.

   Über uns kommen Nachtmanöver, Kanonen,

   wir möchten ausschlagen wie auf dem Wall

   junge Pferde, aber wir müssen uns schonen

   und stehen immer wie im Stall.

   Goldner Kreuze Last

   liegt auf uns verhaßt.

   Wo unsre Brüder wohnen,

   wissen wir nicht. In Scherben zerschellt unsrer einsamen

                                         Stimmen Schall...

   (V 15-25).

Die Vorstellung von Technik als lebenserweiternd hat sich als Illusion herausgestellt, und ihren bitteren Preis genannt. Die Technik hat sich gegen die Menschen gerichtet und macht auch zwischenmenschliche Beziehungen unmöglich:

   Wir liegen wie einbalsamierte Leichen,

   ewiger Krieg tausend Wunden uns schlug.

   Sind nie vereint,

   immer trennt uns ein Feind,

   daß wir uns nie erreichen -

   (V 28-32).

Besonders in den Großstädten bekamen die Menschen die Auswirkungen des Krieges zu spüren: wachsende Armut und Hungersnöte, Einschränkungen aller Art, die Ausklammerung der bürgerlichen Grundrechte sowie die Beschlagnahmung aller Güter, die in irgendeiner Weise kriegstauglich waren.

In dem Gedicht „Die gespiegelte Stadt“ (1916) von Oskar Loerke ist die Orientierungslosigkeit der Menschen in Berlin nach dem Ausbruch des Krieges zu spüren, denn wie sollen die Menschen, die ihren Glauben und alle ehemals wichtigen Werte eingebüßt haben, mit dieser existentiellen Bedrohung des Ich, die alle Ängste und Verzweiflungen ins uferlose gesteigert hat, zurecht kommen:

   Daß Ängste meine Schläfen feuchteten,

   Vulkanisch murrend wuchs und wuchs ein Rollen - -

   (Strophe 11, V 43 u. 44).

Die letzten Kriegsjahre waren von einer innenpolitischen Polarisierung gekennzeichnet. Das militärische Vorgehen Deutschlands fand unter der eigenen Bevölkerung schon lange kein Einverständnis mehr, die Kritik am Staat wuchs und wurde lauter.

Walter Hasenclever kritisiert in seinem Gedicht „Die Mörder sitzen in der Oper“ (1917) den König und die obersten Militärs, die sich als die Verantwortlichen des Krieges fern ab vom Schlachtfeld aufhalten:

   Sie halten blutige Därme in den Krallen,

   Entrissen einem armen Grenadier.

   Zweitausend sind in dieser Nacht gefallen!

   Die Mörder sitzen im Rosenkavalier[.]

   (7. Strophe),

 

oder einen Frontbesuch mit Champagner begießen:

 

   M. Beckmann: Der Hunger 1919Der dicke König ist zur Front gereist.

   „Hier, Majestät, fand statt das große Ringen!“

   Es naht der Feldmarschall mit Eichenlaub.

   Die Tafel klirrt. Champagnergläser klingen.

   Ein silbernes Tablett ist Kirchenraub[.]

   (V 32-36),

während die Zivilbevölkerung hungert, Soldaten sterben und jegliche politische Opposition im Lande in ihrem Keim erstickt wird.

Den Expressionisten erschien der Krieg als Symptom und Symbol einer allgemeinen äußeren und inneren Krise aller Ordnungen und des Lebens[284].

Die Kriegserfahrungen wurden zur Bestätigung der Zeit- und Gesellschaftsdiagnose vorangegangener Jahre[285]. Das von den Dichtern thematisierte Weltende war nicht der Erste Weltkrieg, es stand bereits für das entseelte Leben in der Großstadt und für die Zerstörungstriebe der wilhelminischen Gesellschaft vor dem Krieg. Die Menschen hatten sich ihr Weltende selbst geschaffen.

Darum verwundert nicht, dass den expressionistischen Dichtern der Tod als letzte Konsequenz erschien, um der Sinn- und Trostlosigkeit des modernen Lebens zu entkommen.

G. Grosz: Selbstmord 1916Bei Oskar Loerke ist dann selbst dieser Ausweg von jeglicher Mystik entzaubert. Neben die Gewissheit, das alles Vergänglich ist, wird in „Totenvögel, von einem Berliner Friedhof“ (1911/12) auch der christliche Glauben an eine Auferstehung nach dem Lebensende verneint:

    Sie sieht ihr Bild im Glasherzschrein -

   - Photographierte Glorie! -

   Und auf dem Grab Vergißnichtmein

   Und um das Grab Zichorie.

   Und ist nicht mehr. Und jeder schwand,

   Der tot im Totengarten.

   Rings Feuerwand an Feuerwand,

   Ganz leer und ohne Scharten[.]

   (Strophe 7 u. 8).

 

    < zum Textanfang