Ein weißer Vogel ist der große Himmel.
Hart unter ihn geduckt stiert eine
Stadt.
Die Häuser sind halbtote alte Leute.
Griesgrämig glotzt ein dünner
Droschkenschimmel.
Und Winde, magre Hunde, rennen matt.
An scharfen Ecken quietschen ihre
Häute.
In einer Straße stöhnt ein Irrer: Du,
ach, du -
Wenn ich dich endlich, o Geliebte,
fände...
Ein Haufen um ihn staunt und grinst
voll Spott.
Drei kleine Menschen spielen Blindekuh
-
Auf alles legt die grauen Puderhände
Der Nachmittag, ein sanft verweinter
Gott.
(Alfred Lichtenstein, 1913)
Auf lauten Linien fallen fette Bahnen
Vorbei an Häusern, die wie Särge sind.
An Ecken kauern Karren mit Bananen.
Nur wenig Mist erfreut ein hartes
Kind.
Die Menschenbiester gleiten ganz
verloren
Im Bild der Straße, elend grau und
grell.
Arbeiter fließen von verkommnen Toren.
Ein müder Mensch geht still in ein
Rondell.
Ein Leichenwagen kriecht, voran zwei
Rappen,
Weich wie ein Wurm und schwach die
Straße hin.
Und über allem hängt ein alter Lappen
-
Der Himmel... heidenhaft und ohne
Sinn.
(Alfred Lichtenstein, 1912)
Ein kleines Mädchen hockt mit einem
kleinen Bruder
Bei einer umgestürzten Wassertonne.
In Fetzen, fressend liegt ein
Menschenluder
Wie ein Zigarrenstummel auf der gelben
Sonne.
Zwei dünne Ziegen stehn in weiten
grünen Räumen
An Pflöcken, deren Strick sich
manchmal straffte.
Unsichtbar hinter ungeheuren Bäumen
Unglaublich friedlich naht das große
Grauenhafte.
(Alfred Lichtenstein, 1912)
Straßauf, straßab durchstreifen wir
die Stadt,
die graue Stadt, die Stadt zermürbter
Brücken.
Verlumpte Bettler drohen giftig mit
den Krücken
und Händler drücken uns an Häusern
platt.
Aus Wirtshausfenstern wirbelt fetter
Bratgeruch
und Lustgebrüll aus hundert
Singspielhallen.
Wir müssen schnell die Riemen fester
schnallen
und ducken uns vor Fremdenhaß und
Lästerfluch.
Den Korso überwölkt Geheul von
Schiffsfanfaren
und Bahngeräusch bleit sich in unsre
Nerven rücksichtslos.
Aus Pflasterritzen wuchert Unkraut
riesengroß.
Verkrüppelt stehn paar Linden am
Kanal.
Verstimmte Glocken überwimmern Lust
und Qual
und nirgend sieht man Kinder, die sich
um ein Spielwerk scharen.
(Paul Zech, 1914)
Die Wolken ziehn gewitterschwer,
die Straße strotzt vor Lärm und Licht,
und in dem weißen Lichtermeer
hat nichts mehr menschliches Gesicht.
Mit Tiergebiß und Geierkrallen
sind sie der letzten Lust verfallen
und tanzen, wenn der Donner grollt,
zu Trommelschall und Lästermaul:
Berlin,
wach auf und sei nicht faul,
dein
Tänzer ist das Gold!
Berlin, das ist ein Höllenpfuhl,
da hockt die Hure Zeitvertreib
in einem goldnen Schaukelstuhl
und bläht ihn auf, den blanken Leib,
und schluckt mit Haut und Haar die
Knaben,
die ihren Vater längst vergessen
haben.
Der seufzt in seiner Todesqual
im Feld, erwürgt von Gift und Gas:
Berlin,
merk auf, zum letzten Mal,
dein
Tänzer ist der Satanas!
Sie tanzen um das Kalb herum
vom Morgen bist zur Mitternacht
und haben nie gewußt, warum
da draußen in der Bruderschlacht
die dummen Männer sich zerfleischen.
Sie hören nur die Geigen kreischen
und manchmal einen Pfeifenschrei
zum Mummenschanz und Maskenfest:
Berlin,
halt ein, es bleibt dabei,
dein
Tänzer ist die Pest.
Der Krieg fraß alle Männer weg,
und Gott wiegt keinen Heller mehr,
sein Bild verwest zu Blut und Dreck.
Weiß keiner mehr, wohin, woher
die schwarzen Wetterwolken jagen?
Die Erde ist mit Fluch geschlagen
und heult im letzten Bogenstrich
von Morgenrot zu Morgenrot:
Berlin,
halt ein, besinne dich,
dein
Tänzer ist der Tod.
(Paul Zech, 1914/16)
Wir wollen uns immer die Hände reichen
über Patina- Grün und Lichter- Flug,
doch unsrer ehernen Zungen Zeichen
(Wo ist die Stille, die einst uns
trug?)
haben sich nie vereint,
immer war irgendein Feind
zwischen uns: Räderspeichen,
Autohupen, Reklamen, ein Stadtbahnzug!
Wir starren, verdorrte Bäume, in
Schwüle
(Manchmal schwebt uns ein Luftschiff
nach...)
dürstend nach der Sterne Kühle
und der Wolken Gloria.
Rauch erdrosselt weh
unser: Kyrie!
und wie Henkerstühle
stehn Plätze; Drähte sind wie
Mördernetze da.
Über uns kommen Nachtmanöver, Kanonen,
wir möchten ausschlagen wie auf dem
Wall
junge Pferde, aber wir müssen uns
schonen
und stehen immer wie im Stall.
Goldner Kreuze Last
liegt auf uns verhaßt.
Wo unsre Brüder wohnen,
wissen wir nicht. In Scherben
zerschellt unsrer einsamen
Stimmen Schall...
Unsre Leiber sinken verloren,
erbleichen
bei Patina- Grün und Lichter- Flug.
Wir liegen wie einbalsamierte Leichen,
ewiger Krieg tausend Wunden uns
schlug.
Sind nie vereint,
immer trennt und ein Feind,
daß wir uns nie erreichen -
wo ist die Stille, die einst uns trug,
... und ertrug?
(Max Herrmann-Neisse, 1914)
Der Regen fällt. Berlin durchhallt die
kalte
Sintflutmusik der Nacht. Der Regen
fällt.
Noch ein Berlin, steil auf den Kopf
gestellt,
Versinkt umgraut, verschwommen im
Asphalte.
In steifen Prozessionen stehn Laternen
Und glühn tief unter sich, und
schwarzer Stein
Scheint alle Leere, aller Raum zu sein
Bis in des Himmels stumpf geballte
Fernen.
Im Stein stehn Bilder, gleich
vergessnem Truge
Magnetisch an die obre Welt geklebt.
Sinds Häuser? Straßen? Leben kommt und
schwebt
Verkehrt, verwünscht, gleich einem
Faschingszuge.
Die Menschen wollen in den Himmel
schwinden,
Hinab, gleich Blättern, vom Asphalt
geweht,
Hinab in sinkend schönem Kreis
gedreht,
Sich selig in die Wettertiefe winden.
Doch ihre Sohlen haften an den
Steinen,
Ganz oben hält sie traurige Gewalt.
Die leichtre Welt im Spiegel aus
Asphalt
Und die darüber bleiben in der einen.
Und immer schwerer stürzt und stürzt
der Regen.
Des Abgrunds Himmel brüllen wie ein
Meer.
Im Nichts den Fuß, hoch geh ich drüber
her.
Schwermütig kommt das leere Nichts
entgegen.
Die Wagen stehn vermummt in
Lederkutten,
Wer unterm nassen Leder sitzt,
vermummt;
Turmtief von einem Hause sehn
verstummt
Zwei nackte tote Knaben,
Sandsteinputten:
Halb graues Chaos schon und nur zu
ahnen,
Sie horchen in die wüste Nacht aus
Stein
Und schreiten Hand in Hand matt aus
dem Sein,
Der dumpfen Ungewißheit Untertanen.
Und ich auch schreite, Knecht des
Ungewissen,
Die Bilder deutend, jenseits aller
Zeit.
Voll ungeheurer Traumestraurigkeit
Umschweben sie im Schlaf noch meine
Kissen:
Nichts war mehr, außer unter meinem
Fuße
Die große Stadt; die hing von Türmen
schwer,
Wie Stalaktiten überm Himmelsmeer,
Ganz schwarz, ganz still, im Krampf
der Todesmuße.
Die sternentief entfernten Weiten
schollen,
Die Düsternisse wetterleuchteten,
Daß Ängste meine Schläfen feuchteten,
Vulkanisch murrend wuchs und wuchs ein
Rollen - -
(Oskar Loerke, 1916)
Zum Andenken an Karl Liebknecht
Der Zug entgleist. Zwanzig Kinder
krepieren.
Die Fliegerbomben töten Mensch und
Tier.
Darüber ist kein Wort zu verlieren.
Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.
Soldaten verachtet durch die Straßen
ziehen.
Generäle prangen im Ordensstern.
Deserteure, die vor dem Angriff
fliehen,
Erschießt man im Namen des obersten
Herrn.
Auf, Dirigent, von deinem
Orchesterstuhle!
Du hast Menschen getötet. Wie war dir
zu Mut?
Waren es viel? Die Mörder machen
Schule.
Was dachtest du beim ersten
spritzenden Blut?
Der Mensch ist billig, und das Brot
wird teuer.
Die Offiziere schreiten auf und ab.
Zwei große Städte sind verkohlt im
Feuer.
Ich werde langsam wach im Massengrab.
Ein gelber Leutnant brüllt an meiner
Seite:
„Sei still, du Schwein!“ Ich gehe
stramm vorbei:
Im Schein der ungeheuren Todesweite
Vor Kälte grau in alter Leichen Brei.
Das Feld der Ehre hat mich
ausgespieen;
Ich trete in die Königsloge ein.
Schreiende Schwärme schwarzer Vögel
ziehen
Durch goldene Tore ins Foyer hinein.
Sie halten blutige Därme in den
Krallen,
Entrissen einem armen Grenadier.
Zweitausend sind in dieser Nacht
gefallen!
Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.
Verlauste Krüppel sehen aus den
Fenstern.
Der Mob schreit: „Sieg!“ Die Betten
sind verwaist.
Stabsärzte halten Musterung bei
Gespenstern;
Der dicke König ist zur Front gereist.
„Hier, Majestät, fand statt das große
Ringen!“
Es naht der Feldmarschall mit
Eichenlaub.
Die Tafel klirrt. Champagnergläser
klingen.
Ein silbernes Tablett ist Kirchenraub.
Noch strafen Kriegsgerichte das
Verbrechen
Und hängen den Gerechten in der Welt.
Geh hin, mein Freund, du kannst dich
an mir rächen!
Ich bin der Feind. Wer mich verrät,
kriegt Geld.
Der Unteroffizier mir Herrscherfratze
Steigt aus geschundenem Fleisch ins
Morgenrot.
Noch immer ruft Karl Liebknecht auf
dem Platze:
„Nieder der Krieg!“ Sie hungern ihn zu
Tod.
Wir alle hungern hinter
Zuchthaussteinen,
Indes die Opfer tönt im Kriegsgewinn.
Mißhandelte Gefangene stehn und weinen
Am Gittertor der ewigen Knechtschaft
hin.
Die Länder sind verteilt. Die Knochen
bleichen.
Der Geist spinnt Hanf und leistet
Zwangsarbeit.
Ein Denkmal steht im Meilenfeld der
Leichen
Und macht Reklame für die Ewigkeit.
Man rührt die Trommel. Sie zerspringt
im Klange.
Brot wird Ersatz und Blut wird Bier.
MeinVaterland, mir ist nicht bange!
Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.
(Geschrieben 1917)
(Walter Hasenclever, 1917)
Ihn schließen Feuerwände ein,
Ganz leer und ohne Scharten:
Ein Nebel wankt von Stein zu Stein
Im schlimmen Totengarten.
Im Nebel sitzen dünn und matt
Die Toten in den Eschen
Und stieren nach der lieben Stadt
Durch Mauern ohne Breschen.
Ein Schlot schreibt wie ein
Riesenstift
Im Nebel schwarze Reihen.
Die Toten plappern nach die Schrift,
So klug wie Papageien.
Irr schallt das wie des Windes Ritt,
Weil Kringel nichts bedeuten.
Ein Pianino klappert mit
Und fernes Trambahnläuten.
Der Nebel raucht bei Frau und Mann
Aus Ohren und aus Gaumen.
Sie fangen zu vergehen an
Und drehen mit den Daumen.
Sie schmelzen rauchend in den Rauch
Und fallen aus den Kronen.
In blaue Streifen löst sich auch
Die dickste der Matronen.
Sie sieht ihr Bild im Glasherzschrein
-
- Photographierte Glorie! -
Und auf dem Grab Vergißnichtmein
Und um das Grab Zichorie.
Und ist nicht mehr. Und jeder schwand,
Der tot im Totengarten.
Rings Feuerwand an Feuerwand,
Ganz leer und ohne Scharten.
(Oskar Loerke, 1911/12)
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