Analyse: Vorstadt

 

Auffällig bei der thematischen Zusammenstellung der in dieser Arbeit verwendeten Gedichte war die schon im Titel häufig genannte Vorstadt. Dieses Kapitel versucht nun zu erfragen, was das Verhältnis der Dichter zur Vorstadt von ihrer Beziehung zur Großstadt (Berlin) unterscheidet, und damit verbunden, welche lyrische Idee sich hinter dem Ort Vorstadt verbirgt.

War Berlin um 1870 noch von Dörfern umgeben, verband schon bald darauf die Ringbahn die verschiedenen Vororte miteinander. Gleichzeitig bildete sich zur Zeit der Jahrhundertwende um die eigentliche Stadt ein Ring aus Mietwohnhäusern, um den enormen Zustrom von Arbeitsuchenden, die nach Berlin zogen, zu fassen[227]. Die Stadt wuchs mehr und mehr mit ihrer Peripherie zusammen[228].

Prenzlauer Allee 1907Die einzelnen Bezirke unterschieden sich allerdings sehr voneinander. Neben der City, die aus Geschäften und chicen Wohnhäusern bestand, gab es im Norden und Osten die Arbeiterviertel mit ihren Mietskasernen. Im Südosten war ein Großteil der Industrie angesiedelt, im Süden und im Westen entstanden großbürgerliche Wohnquartiere und im „neuen Westen“ am Kurfürstendamm eine luxuriöse zweite City mit Geschäften, Vergnügungsstätten und Kinos[229]. So unterschiedlich wie die neu entstandenen Bezirke waren, so verschieden ist auch die Wahrnehmung von der Vorstadt in den folgenden Gedichten:

Konträr zur Großstadt, vor allem zu den Gedichten, die sich mit der Straße und dem Verkehr auseinandersetzen, wird die Vorstadt in den Gedichten „Vorstadtmorgen“ (1912, Max Herrmann-Neiße), „Vorortballade“ (1910, René Schickele) und „Berliner Vorortbahnhof - Berlin 6“ (1910, Georg Heym) dargestellt.

Max Herrmann-Neißes Beschreibung des Morgens in der Vorstadt erscheint fast als ländliches, kleinstädtisches Idyll. Erst die Erwähnung der Arbeiter, die morgens um sieben in die Fabrik gehen, die Pluralform von Fabrik und das Verb ,schieben’ verweisen darauf, dass es sich hier um eine große Masse handeln muss:

   wo Arbeiter sich zu Fabriken schieben[,]

   (V 12),

stellen einen eindeutigen Bezug zur Großstadt mit Industriezentren her. Die positive Beschreibung des Vorstadtmorgens in den Versen 1 bis 11 wird im letzten Vers dann aber in Frage gestellt:

   und nichts als grelles Rot und Weiß und Grün!

   (V 12).

Die Idylle ist zu eintönig, und die Farben werden schließlich als unangenehm empfunden.

Auch in René Schickeles Version des Vorortes wird die Idylle eines großen Hauses mit Garten und Boot am Wannsee als spießiges Leben entlarvt, denn den Menschen geht es hier nur darum, Nachbarn mit Besitztümern, wozu auch Damenbekanntschaften zählen, zu übertreffen.

L. Meidner: Wannseebahnhof 1913In dem Gedicht „Berliner Vorortbahnhof - Berlin 6“ wird die friedlich-stille Sommerabendidylle des Vorortes von dem Lärm und dem Trubel gestört, der beim Hereinbrausen und der Abfertigung des Pendlerzuges, der die Arbeiter zurück in die Stadt transportiert, entsteht:

   Die Türen gehen auf. Die Gleise schrein

   vom Bremsendruck. Die Menschenmassen drängen

   noch weiß vom Kalk und gelb vom Lehm. Sie zwängen

   zu zwanzig in die Wagen sich herein[.]

   (V 5-8).

Nachdem die Bahn fort ist, kehrt wieder Ruhe und Harmonie in das Vorstadtleben ein:

   Die roten Lampen schimmern von Balkonen.

   Man hört das leise Klappern von Geschirren

   und sieht die Esser halb im Blättermeer[.]

   (V 12-14).

Ganz anders verhält es sich mit dem ebenfalls von Georg Heym stammenden Gedicht „Die Vorstadt“ (1910), welche der Ort der in Elend und Armut lebenden Menschen ist. Das Repertoire dieses Gedichtes sind Kranke, Irre und Bettler, und damit unterscheidet es sich nicht von den Großstadtdarstellungen, die sich mit denselben Leidfiguren auseinandersetzen:

   Hier klafft ein Maul, das zahnlos auf sich reißt.

   Hier hebt sich zweier Arme schwarzer Stumpf.

   Ein Irrer lallt die hohlen Lieder dumpf,

   Wo hockt ein Greis, des Schädel Aussatz weißt.

 

   Es spielen Kinder, denen früh man brach

   Die Gliederchen. Sie springen an den Krücken

   Wie Flöhe weit und humpeln voll Entzücken

   Um einen Pfennig einem Fremden nach[.]

   (V 9-16)

Ohne die Kennzeichnung des Ortes im Titel wären diese Verse ohne weiteres auch als eine Darstellung des Großstadtgeschehens zu verstehen.

L. Meidner: Café SchönebergIn Erwartung eines kosmopolitischen, einer Hauptstadt angemessenen Lokals in dem Gedicht „Das Vorstadtkabarett“ (1912, Alfred Lichtenstein), trifft das lyrische Ich nur auf kleinstädtisches Gehabe und gewöhnliche, durchschnittliche Menschen:

   Die meisten Menschen trinken gelbes Bier.

   Verrauchte Krämer glotzen grau und bieder.

   Ein feines Fräulein singt gemeine Lieder.

   Ein junger Jude spielt ganz gern Klavier[.]

   (V 9-12).

Die Bezeichnung „Vorstadtkabarett“ könnte sogar nur ironisch als Beleidigung für ein großstädtisches (Berliner) Restaurant gemeint sein, dessen Besucher ihn an das Publikum in einem solchen erinnern.

Die Vorstadt-Gedichte zeigen, dass auch hier schon die Großstadt, wenn auch nur im Hintergrund, einen erheblichen Einfluß auf das Leben der Menschen hat. Die Atmosphäre in den Vororten wird von dem immer weiter zusammenwachsenden Berlin geprägt, und in Georg Heyms Version ist sie schon nicht mehr vom Großstadtgeschehen zu unterscheiden.

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