Gedichte: Vorstadt

 

Vorstadtmorgen (M. Herrmann-Neisse)

Vorortballade (R. Schickele)

Berliner Vorortbahnhof - Berlin 6 (G. Heym)

L. Meidner: Wannseebahnhof 1913 

 

Die Vorstadt (G. Heym)

Das Vorstadtkabarett (A. Lichtenstein)

 

 

  

 

 

 

 

 

 

Vorstadtmorgen

Ich bin ein Morgen, den die Vorstadt schenkt:

Wo Linden duften auf den leeren, stillen,

verschlafnen Straßen um sehr weiße Villen

und sich ein Fremder laß zum Bahnhof lenkt.

 

Wo sich zerzauste Mädchen scherzend scharen

um eines Milchmanns Wagen und ein Kind

vom Bäcker kommt und Hunde sich geschwind

und ganz gehässig in die Beine fahren

 

und Burschen gähnend ihre Pferde striegeln

und grüne Jalousien die Welt versiegeln

und kleine Gärten vor den Läden blühn -

wo Arbeiter sich zu Fabriken schieben,

und eine ferne Uhr schlägt säumig sieben,

und nichts als grelles Rot und Weiß und Grün!

(Max Herrmann-Neisse, 1912)

 

 

 

 

 

 

Vorortballade

Um seine Villa beneidet der eine den anderen, um das Leuchten des Wann-sees,

um seine Terrasse mit geflochtenen Stühlen, um das Segelboot „Ramses“.

 

Um seine Hühnerhöfe auch und den schattigen Garten,

wo er in vielen Nächten verdammt war zu warten,

 

bis eine Dame kam mit hellem Haar und dem Schlüssel zum Ausflug.

Ihr Haar fiel, und sie lachte leis, bis die erste Lerche im Tau schlug.

 

Nun aber möchte er Starkästen bauen, mit kleinen Hunden spielen,

dem Wetter vertrauen und im Schatten nach glitzernden Möwen zielen,

 

das Boot „Ramses“ besteigen, in Himmel und Wolken baden!

Vorallem aber wünschte er sehr, seine Freunde zum Essen zu laden.

 

Wogegen der andre mit Schnaken kämpfte im schattigen Garten,

verdammt in vielen Nächten zu stehn und lange zu warten,

 

bis eine Dame käme, mit hellem Haar und dem Schlüssel zum Ausflug.

Ihr Haar fiel, und sie lachte leis, bis die erste Lerche im Tau schlug.

(René Schickele, 1910)

 

 

 

 

 

 

Berliner Vorortbahnhof - Berlin 6

Auf grüner Böschung glüht des Abends Schein.

Die Streckenlichter glänzen an den Strängen,

die fern in einen Streifen sich verengen

-Da braust von rückwärts schon der Zug herein.

 

Die Türen gehen auf. Die Gleise schrein

vom Bremsendruck. Die Menschenmassen drängen

noch weiß vom Kalk und gelb vom Lehm. Sie zwängen

zu zwanzig in die Wagen sich herein.

 

Der Zug fährt aus, im Bauch die Legionen.

Er scheint in tausend Gleisen zu verirren,

der Abend schluckt ihn ein, der Strang ist leer.

 

Die roten Lampen schimmern von Balkonen.

Man hört das leise Klappern von Geschirren

und sieht die Esser halb im Blättermeer.

(Georg Heym, 1910)

 

 

 

 

 

 

Die Vorstadt

In ihrem Viertel, in dem Gassenkot,

Wo sich der große Mond durch Dünste drängt,

Und sinkend an dem niedern Himmel hängt,

Ein ungeheurer Schädel, weiß und tot,

 

Da sitzen sie die warme Sommernacht

Vor ihrer Höhlen schwarzer Unterwelt,

Im Lumpenzeuge, das vor Staub zerfällt

Und aufgeblähte Leiber sehen macht.

 

Hier klafft ein Maul, das zahnlos auf sich reißt.

Hier hebt sich zweier Arme schwarzer Stumpf.

Ein Irrer lallt die hohlen Lieder dumpf,

Wo hockt ein Greis, des Schädel Aussatz weißt.

 

Es spielen Kinder, denen früh man brach

Die Gliederchen. Sie springen an den Krücken

Wie Flöhe weit und humpeln voll Entzücken

Um einen Pfennig einem Fremden nach.

 

Aus einem Keller kommt ein Fischgeruch,

Wo Bettler starren auf die Gräten böse.

Sie füttern einen Blinden mit Gekröse.

Er speit es auf das schwarze Hemdentuch.

 

Bei alten Weibern löschen ihre Lust

Die Greise unten, trüb im Lampenschimmer,

Aus morschen Wiegen schallt das Schreien immer

Der magren Kinder nach der welken Brust.

(Georg Heym, 1910)

 

 

 

 

 

 

Das Vorstadtkabarett

Verschweißte Kellnerköpfe ragen in dem Saal

Wie Säulenspitzen hoch und übermächtig.

Verlauste Burschen kichern niederträchtig,

Und helle Mädchen blicken hübsch brutal.

 

Und ferne Frauen sind so sehr erregt...

Sie haben hundert rote runde Hände,

Gebärdelose, große, ohne Ende

Um ihren hohen bunten Bauch gelegt.

 

Die meisten Menschen trinken gelbes Bier.

Verrauchte Krämer glotzen grau und bieder.

Ein feines Fräulein singt gemeine Lieder.

Ein junger Jude spielt ganz gern Klavier.

(Alfred Lichtenstein, 1912)