Ein Großteil der in dieser Arbeit aufgeführten Berlin-Lyrik erzählt von der Nacht[183]. Das lässt auf ein besonderes Verhältnis der Dichter zur Tages- beziehungsweise Nachtzeit schließen. Während die Nacht aber einen von den Dichtern bewußt eingesetzten thematischen Schwerpunkt bildet - das soll im Laufe dieses Kapitels herausgearbeitet werden - scheint der Tag als Zeit des Geschehens für die Lyrik fast bedeutungslos zu sein. Die Ursache hierfür ist zunächst nicht außergewöhnlich, wenn man bedenkt, dass die meisten Künstler noch sehr jung waren, und das Nachtleben Berlins eine besondere Faszination auf sie ausübte. Von großer Bedeutung ist die Tatsache, dass das Leben in der Großstadt, insbesondere in Berlin, den Menschen eine Freizügigkeit ermöglichte, die bei einem Kleinstädter in dem Maße so nicht denkbar gewesen wäre.
Zu dieser Freiheit gehört auch der Umgang mit Sexualität, deren Auslebung in der Lyrik beschrieben wurde. Was in „Kreuzberg 2“ (1912) von Ernst Blass noch lässige Feststellung ist: Auf Bänken übertastet man die Leiber Zum Teil gar nicht unsympathscher Weiber[.] (V 7 u. 8), ist in „Nacht im Stadtpark“ (1912) von Max Herrmann-Neiße als „hektische, vulgäre Bildfolge des menschlichen Sexualtriebs“[184] dargestellt: Ein schmales Mädchen ist sehr liebevoll Zu einem Leutnant, der verloren stöhnt, Ein Korpstudent mokiert sich, frech, verwöhnt, Und eine schiefe Schneppe kreischt wie toll.
Ein Refrendar bemüht sich ohne Glück Um eine Kellnerin, die Geld begehrt, Ein Abgeblitzter macht im Dunkeln kehrt, Und eine Nutte schwebt zerzaust zurück (Strophe 1 u. 2). Es folgen noch weitere erotische Szenen in dem Gedicht. Das Leben erscheint hier durchweg sexualisiert. Solche Schilderungen waren ein eindeutiger Verstoß gegen die wilhelminische Moral[185]. Stundenlange Aufenthalte in den literarischen Cafés mit anschließenden ausdauernden Streifzügen durch die nächtlichen Straßen Berlins können als typischer Tagesablauf der Künstler gesehen werden[186]. Deshalb sind Fußmärsche durch die nächtlichen Straßen der Hauptstadt, deren Bild geprägt ist von Lichtern, Verkehr, Vergnügungsstätten und Prostituierten, Café- und Barbesuchern, Liebespaaren und Kriminellen, ein wiederkehrendes Motiv der Nacht-Gedichte. Dieses ziellose Umherziehen hat Ernst Blass am treffendsten ausgedrückt in seinem Vers: Die Straßen komme ich entlanggeweht[187]. Individuelles Lebensgefühl und allgemeine Zeitstimmung hat er darin vereint. Peter Christian Giese schreibt dazu: Erst das Partizip ‚geweht’ verleiht dem Vers jene unstete Bewegung, in der Aktivität und Passivität ununterscheidbar ineinander übergehen, und dadurch konzentriert sich in diesem Vers auf glückliche Weise eine typische Großstadtempfindung, die zeitgenössisches Bewußtsein so anschaulich wie präzise formuliert[188]. Auf vielfältige Weise entspricht die Nacht dem Lebensgefühl der Dichter, so auch in dem Gedicht „Berliner Abendstimmung“ (1910) von Ernst Blass. Die hier dargestellte Abendstimmung fixiert die Erlebniswelt des Großstädters: Häuser, Huren, Hüte, Frisuren, Frauen, Männer und Presseleute begegnen dem Subjekt auf den nächtlichen Straßen der Hauptstadt. Bei deren Beschreibung wechselt gefühlvoll sentimentale Einstellung mit ironischer Distanz. Dieses Nebeneinander wird am deutlichsten in Vers 16: In manchen Blicken liegt der halbe Mond. Das Sehnsuchtsvolle dieser Aussage behält einen ironischen Beigeschmack: Es ist nur der halbe Mond, den das Ich in den Augen der Vorbeiziehenden sieht. Es handelt sich bei dem Gedicht um „Erlebnislyrik im klassischen Sinn“[189], doch jetzt ist die Stimmung nicht mehr von der Natur ausgelöst und wird nicht durch sie erfahren, sondern sie wird von der Stadt und ihrem Nachtleben produziert. So ist es schließlich die Farbe eines Cocktails, die das Subjekt in eine verzückte rauschhafte Gemütslage zu versetzen vermag: O komm! O komm, Geliebte! In der Bar Verrät der Mixer den geheimsten Tip. Und überirdisch, himmlisch steht dein Haar Zur Rötlichkeit des Cherry-Brandy-Flip[.] (V 17-20). Kritik an der Rolle eines Erlebnissubjektes, das das lyrische Ich hier wie in vielen expressionistischen Gedichten ist, übt Jakob van Hoddis in seinem Gedicht „He!“ (1907/09), indem er auf die stets passive Situation des Betrachters hinweist[190]. Hoddis zerstört die Aura des Erlebnisses, denn in seiner Version werden Blass’ Empfindungen zu einer spießigen Erinnerung eines „blasse[n] Oberlehrer[s]“ (V 15). Mit dem Wortspiel ,Blass’ und ,blass’ ist der Adressat seiner Parodie ganz klar genannt. Es folgen Anspielungen an „Berliner Abendstimmung“: die Bar, die Dame und die Locken werden erwähnt (V 17 u. 18), nur dass die Locken nicht mehr der angebetenen Dame gehören, sondern ihr vom Subjekt als Moment der Erinnerung selbst zugeschrieben werden (V 17). Die letzten beiden Verse sind dann fast wörtlich übernommen, nur dass aus den Kirschen („Berliner Abendstimmung“, V 20) jetzt Alkohol geworden ist („He!“, V 20), und aus dem Flip sein Genitiv. „Einst als gelockter Jüngling in der Bar Sah ich begeistert mancher Dame Schwips. O, überirdisch himmlisch stand ihr Haar Zur Rötlichkeit des Sherry Brandy Flips[.]“ (V 17-20). Auf sehr amüsante Weise entlarvt Jakob van Hoddis Ernst Blass’ Erlebnissubjekt, den so genannten Oberlehrer, als einen einsamen Bargast, der als voyeurhafter Zuschauer die Schönheit fremder Damen anstarrt.
Zurück zur Nacht: Für die Künstler bedeutete die Nacht eine Zeit, in der Ordnungen und Regeln, die am Tag bestimmend waren, hinfällig werden. Es scheint, als ob jetzt die menschlichen Triebe die Überhand über die gesellschaftliche Moral gewönnen. So finden sich neben den beschriebenen erotischen Szenen in „Nacht im Stadtpark“ auch eindeutige Schilderungen von Kriminalität und Gewalt: Zwei unbestimmte prügeln einen Herrn[,] (V 9), sowie: Zwei Männer flüstern einen finstern Plan, Ein welkes Wesen wehrt sich hoffnungslos[,] (V 29 u. 30). Ungesteuert überkommen auch Fieberträume und Halluzinationen die Dichter, so wie in „Kreuzberg 1“ (1910) von Ernst Blass das lyrische Ich bereits in der Dämmerung von solchen „Nerventräume, blaß und heiß“ (V 8) heimgesucht wird: Hörst du die roten Nacht- und Not-Alarme? Die heißen, blassen Träume sind verstreut[.] (V 10 u. 11). Es ist, als ob das Subjekt die Kontrolle über sich verliert. Die Nacht wird zur Bedrohung des Ich, indem sie seine psychologische Verfassung in Frage stellt. Die „große Stadt“ (V 5), hier wieder personalisiert[191], wirkt als zerstörerische Kraft gegen die Individuen der Großstadt. Diese Bedrohung kann aber auch als Erfahrung herbeigesehnt werden, so wie in Jakob van Hoddis’ Gedicht „Stadt“ (1907/09): In dem Vers Komm! laß uns warten auf die kranke Nacht (V 13), klingt die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach der Nacht an. Diese Aufforderung offenbart einen fast masochistischen Beigeschmack: Es ist das Verlangen nach etwas Krankem und nach einer schmerzhaften und negativen Auseinandersetzung mit dem eigenen Innern (V 14). Die in „Kreuzberg 1“ sich anbahnende Auflösung von Wirklichkeit wird in „Stadt“ als lustvolle Entgrenzung herbeigewünscht. Das lyrische Ich vollzieht hier eine Tag- und Nachtdifferenzierung, die ihm gleichzeitig zur Abgrenzung dient. Es bezeichnet den Tag als schamlos, hässlich und stinkend (V 5), und kritisiert, dass die anderen „des blöden Tages Strenge - Gewaltig preisen“ (V 10-11). Die anderen, dass sind diejenigen Menschen, die sich tagsüber auf den Straßen Berlins drängen (V 6 u. 7) und ihrer Arbeit oder anderen Pflichten nachgehen, also einen Großteil der Gesellschaft bilden. Das Subjekt macht sich zum Außenseiter und solidarisiert sich damit gleichzeitig mit anderen Nachtgestalten, wie Nachtschwärmern, Vergnügungssüchtigen, Prostituierten und Kriminellen. Vor allem aber mit denjenigen, die in der Nacht die Verwirklichung ihres Lebensgefühls finden, und dazu gehören auch die expressionistischen Dichter. Es ist eine Form des Protestes gegen die Gesellschaft, deren Strenge, die hier mit dem Tag in Zusammenhang gebracht wird, man nur in einer „kranke[n] Nacht“ entkommt. Die Einstellungen beider Subjekte zur Nacht sind widersprüchlich und korrespondieren mit ihren Gefühlen zur Stadt: Das eine bejubelt sie, indem es ihre negativen Eigenschaften aufzählt: Wie schön ist diese stolze Stadt der Gierde! („Stadt“, V 2). Das andere Subjekt ist sich trotz Wahnvorstellungen seiner Möglichkeiten bewußt. Das können berufliche Chancen sein, es kann sich aber einfach auch um die Freiheit der persönlichen Entfaltung handeln: Mir stehen riesige, liebes-, hasseswarme Gebäude zu durchwandern weit bereit[.] („Kreuzberg 1“, V 12 u. 13), die es nur hier in der Stadt besitzt. Die Existenz in Berlin, so bedrohlich sie vor allem in der Nacht erscheint, behält ebenso ihr positives Moment: Die Gefühle zur Stadt sind ambivalent. Beim Wandern durch die nächtlichen Straßen einer Berliner Vorstadt ist es, als würde das lyrische Ich in „Der Gefangene“ (1913) von Walter Hasenclever die von Jakob van Hoddis in die „Stadt“ beschriebenen dröhnenden „Gedankenpränge“ (V 14) durchleben. Das Ich reflektiert seine Lebenssituation, es denkt an Liebe und Frauen (V 2), an Vergnügungen (V 3 u. 4) und an den eigenen beruflichen Erfolg (V 6). Hinzu kommt jetzt, das die Nacht in diesem Gedicht eine ideologische Bedeutung erhält: Nacht ist hier definiert als die Zeit zwischen Sonnenunter- und Sonnenaufgang. Für den Expressionismus bedeutet diese Metapher die Zeit zwischen Weltuntergang und Welterneuerung: Schwarzer Fluß mit schmerzlicher Magie Erscheint im Westen an dem alten Ort. Dort lebt ein Herz, das, vielen zugesellt, Sich tiefer senkte auf des Schicksals Grund; Ein Herz mit ungeheurer Flamme: Welt - Das jetzt trübe steigt in unsern Mund[.] (V 7-12),
Der süßen Gegenwart entrückter Sinn Erhebt sich östlich zu der Lichtstadt hin, Die riesenhaft in singender Gestalt Am körperlosen Äther dir erschallt[.] (V 25-28). Die Gegenwart des Gedichtes, die Nacht, kurz vor Sonnenaufgang, kann nach dem Beginn der Endzeit (V 12) und vor dem Anbruch der neuen Zeit als existentielle Nichtzeit bezeichnet werden, in der das lyrische Ich gefangen ist. So wie es durch die Stadt kreist, ohne erkennbares Ziel und ohne Ende, so kreisen auch seine Gedanken. Mit diesem ideologischen Verständnis der auf- und untergehenden Sonne gehört „Der Gefangene“ zu dem so genannten ,Messianischen Expressionismus’[192]. Die Nacht hat in der Großstadt ihre ursprünglichen Eigenschaften verloren, sie ist wie in „Der Gefangene“ ideologisch beladen, oder aber illusorisch entladen, so wie die Darstellung von Gestirnen, insbesondere dem Mond, beweist. Als „ein pittoresker Kegelkönig“ (V 8) bezeichnet Ernst Blass das Gestirn in seinem Gedicht „Arrangement“ (1912), und in „Autofahrt“ (1911) bleibt nur noch ein „weißer Tropfen“ (V 8)[193] von ihm übrig. Solche Beispiele finden sich in der expressionistischen Lyrik zuhauf. Vom einstigen Verhältnis der Dichter zum Mond, beispielsweise als einem Seelenbruder: Willkommen, o silberner Mond, schöner, stiller Gefährt’ der Nacht! Du entfliehst? Eile nicht, bleib, Gedankenfreund! (Kloppstock, „Die frühen Gräber“)[194]
oder als erlösende Kraft:
Füllest wieder Busch und Tal still mit Nebelglanz, lösest endlich auch einmal meine Seele ganz[.] (Goethe, „An den Mond“)[195], ist nur noch eine grotesk-hilflose Verfremdung geblieben. Diese Darstellung des Mondmotivs zeigt die Auseinandersetzung der expressionistischen Dichter mit der lyrischen Tradition, denn die metaphorische Gestaltung dieses Topos gewinnt ihre Intensität im Expressionismus erst dadurch, dass sie den Vergleich mit der Bildsprache traditioneller Lyrik stillschweigend voraussetzt[196]. Sie ist eine Art von Gegenentwurf zu dem klassischen Motiv, indem sie mit Hilfe von Ironie und grotesker Verfremdung die Erwartung des Rezipienten zerstört. Die expressionistische Vorliebe für die Nacht und den Abend zieht die zahlreiche Verwendung des Mondmotives nach sich, so dass man von einer „typischen Mondpoesie des Expressionismus“[197] sprechen kann. Der Mond und die Sterne haben ihre, in der Literatur bis dahin traditionelle Rolle, verloren. Sie sind ent- und desillusioniert. Die Darstellung der Himmelskörper in der expressionistischen Lyrik belegt ein Zeit- und Lebensgefühl, dem die festen Orientierungspunkte abhanden gekommen sind und das seinen Ausdruck im radikalen Bruch mit der literarischen Tradition findet[198]. „Arrangement“ von Ernst Blass stellt mit Hilfe der Aneinanderreihung „heterogener Wahrnehmungs- und Reflexionselemente“[199] die verwirrende Vielfalt und die schnell wechselnden Eindrücke der Großstadt dar. Dieser zum Teil an impressionistische Stiltendenzen grenzende Reihungsstil, endet bei Jakob van Hoddis[200] und Alfred Lichtenstein[201] in Sarkasmus und Selbstironie. In „Die Nacht“ (1912) addiert Letzterer das nächtliche Geschehen: Polizisten, Bettler, Straßenbahnen, Autodroschken und Huren sind das Repertoire dieser acht Verse. Durch die Aufzählung unzusammenhängender Ereignisse, durch Substantiv-Adjektiv-Kopplungen wie: „zerbrochne Bettler“ (V 2) und „sanfte Autodroschken“ (V 4), durch die Wortwahl der Verben: „watscheln“ (V 1), „meckern“ (V 2), „stottern“ (V 3) und durch zahlreiche Alliterationen, wie zum Beispiel: „harte Häuser humpeln Huren hin“ (V 5) entsteht ein komisch-groteskes Bild der Nacht. Die Anhäufung typischer Bestandteile expressionistischer Lyrik lässt auf eine „spöttische Distanz“[202] schließen und den Schlussvers als Kritik an den Dichterkollegen stehen, deren Werke er als Gejammer „wehleidige[r] Kater“ bloßstellt. Die karikaturhaften Übertreibungen zeigen ein verzerrtes Bild der Stadt, das hier eher spielerisch-komische Züge trägt, und als Mittel ironischer Selbstkritik funktioniert. Die in diesem Abschnitt aufgeführten Gedichte verdeutlichen vor allem eins: Die Nacht bedeutet den Lyrikern zunächst einmal eine Abgrenzung von der Gesellschaft und ihren Normen. Diese Abgrenzung geschieht als Moralbruch durch die lyrische Darstellung von Sexualität und Gewalt. Sie ist aber ebenso ein Teil von Selbstverwirklichung der Künstler, die ihr Lebensgefühl im Berliner Nachtleben erfuhren. Neben der hier ausgelebten Freiheit, die Jakob van Hoddis den Erlebnissubjekten seiner Kollegen abspricht, da sie stets nur passive Beobachter seien, gehören Fieberträume zum festen Bestandteil der Nacht. Trotz schmerzhafter Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit wird diese Zeit dennoch herbeigesehnt, was für die Dichter wiederum eine Form der Ausgrenzung bedeutet. Die Zeit nach Sonnenuntergang wird bei Walter Hasenclever ideologisch zur Endzeit stilisiert, und die grotesken Darstellungen des Mondes zeigen, dass auch vielen seiner Kollegen die Hoffnungslosigkeit und die Trostlosigkeit ihrer Zeit bewußt war. Sarkasmus, Ironie, aber auch Selbstkritik sind die Antworten der Lyriker auf die von ihnen empfundene Krise der Kultur.
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