Gedichte: In der Nacht

 

Kreuzberg 2 (E. Blass)

Nacht im Stadtpark (M. Herrmann-Neisse)

Berliner Abendstimmung (E. Blass)

He! (J. v. Hoddis)

Kreuzberg 1 (E. Blass)

 

G. Grosz: Metropolis, 1917 

Stadt (J. v. Hoddis)

Der Gefangene (W. Hasenclever)

Arrangement (E. Blass)

Die Nacht (A. Lichtenstein)

 

 

  

 

 

 

 

Kreuzberg 2

Wir schleifen auf den müdgewordnen Beinen

Die Trägheit und die Last verschlafner Gierden.

Uns welkten (ach so schnell!) die bunten Zierden.

Durch Dunkliges kriecht geil Laternenscheinen.

 

Im Trüben hat ein träger Hund gebollen.

Auf Bänken übertastet man die Leiber

Zum Teile gar nicht unsympathscher Weiber.

Die schaukeln noch - wir wissen, was wir wollen.

 

Du gähnst mich an - in deinem Gähnen sielt

Sich halbverfaulte Geilheit. Hundgebelle.

Und durch das überlaubte Dings da schielt,

In Stein gemetzt, der Bürgermeister Zelle.

(Ernst Blass, 1912)

 

 

 

 

 

 

Nacht im Stadtpark

Ein schmales Mädchen ist sehr liebevoll

Zu einem Leutnant, der verloren stöhnt,

Ein Korpstudent mokiert sich, frech, verwöhnt,

Und eine schiefe Schneppe kreischt wie toll.

 

Ein Refrendar bemüht sich ohne Glück

Um eine Kellnerin, die Geld begehrt,

Ein Abgeblitzter macht im Dunkeln kehrt,

Und eine Nutte schwebt zerzaust zurück.

 

Zwei Unbestimmte prügeln einen Herrn,

Mit Uniformen zankt ein Zivilist,

Ein Jüngling merkt, daß er betrogen ist,

Und zwei Verschmolzne haben schnell sich gern.

 

Ein starker Bolzen und ein Musketier

Sind ganz in eine graue Bank verwebt,

Ein Gent an einem Ladenfräulein klebt,

Ein greiser Onkel schnuppert geil und stier.

 

Ein Weib mit bloßem Kopf wird sehr gemein,

Ein Louis lauert steif und rührt sich nicht,

Ein Frechdachs leuchtet jeder ins Gesicht,

Und ein Kommis umfaßt ein weiches Bein.

 

Es raschelt in den Sträuchern ungewiß

Und tappt gesträubt auf einen steifen Hut,

Die Bäche liegen still wie schwarzes Blut,

Und Bäume fallen aus der Finsternis.

 

Ein Johlen rollt die Straße hin und stirbt,

Ein Wurf ins Wasser, irgendwo, ganz dumpf,

Ein Mauerwerk wächst wie ein Riesenrumpf,

Ein unbekanntes Tier erwacht und zirpt.

 

Zwei Männer flüstern einen finstern Plan,

Ein welkes Wesen wehrt sich hoffnungslos,

Ein Schüler hat ein Bahnerweib im Schoß,

Im Teich zieht schwer ein ruheloser Schwan.

 

Und Sterne stolpern in die tiefe Nacht,

Und Obdachlose liegen wie erstarrt,

Und bleiern hängt der Mond, und hohl und hart

Glotzt breit ein Turm, verstockt und ungeschlacht.

(Max Herrmann-Neisse, 1912)

 

 

 

 

 

 

Berliner Abendstimmung

Stumm wurden längst die Polizeifanfaren,

Die hier am Tage den Verkehr geregelt.

In süßen Nebel liegen hingeflegelt

Die Lichter, die am Tag geschäftlich waren.

 

An Häusern sind sehr kitschige Figuren.

Wir treffen manche Herren von der Presse

Und viele von den aufgebauschten Huren,

Sadistenzüge um die feine Fresse.

 

Auf Hüten plauschen zärtlich die Pleureusen:

O daß so selig uns das Leben bliebe!

Und daß sich dir auch nicht die Locken lösen,

Die angesteckten Locken meiner Liebe!

 

Hier kommen Frauen wie aus Operetten

Und Männer, die dies Leben sind gewohnt

Und satt schon kosten an den Zigaretten.

In manchen Blicken liegt der halbe Mond.

 

O komm! o komm, Geliebte! In der Bar

Verrät der Mixer den geheimsten Tip.

Und überirdisch, himmlisch steht dein Haar

Zur Rötlichkeit des Cherry- Brandy- Flip.

(Ernst Blass, 1910)

 

 

 

 

 

 

He!

Abend war's: Die Gänse schnattern

Heimwärts in die Abendsonne.

- Denkt der Stadtherr poesievoll.

 

Ha! Der Vater mit dem Sohne

- Auf dem Zündloch der Kanone -

Geht aufs Tempelhofer Feld.

 

Kürassiere schreiten richtig,

Vater nimmt die Sache wichtig:

„Sohn, o Sohn, o werde tüchtig!“

 

Ha! Er gibt den Rat ihm nun,

Die unerhörte Tat zu tun,

Endlich ein Genie zu sein.

 

Ha! Aus seiner stillen Klause

Wo er korrigierend thront,

Steigt ein blasser Oberlehrer

Und beschaut den roten Mond.

 

„Einst als gelockter Jüngling in der Bar

Sah ich begeistert mancher Dame Schwips.

O, überirdisch himmlisch stand ihr Haar

Zur Rötlichkeit des Sherry Brandy Flips.“

(Jakob van Hoddis, 1907/09)

 

 

 

 

 

 

Kreuzberg 1

Blaßmond hat Hall und Dinge grau geschminkt.

Das Wundern lernte selbst der karge Greis,

Der unten, auf der Bank, im engsten Kreis

Vor sich den mageren Spazierstock schwingt.

 

Da liegt die große Stadt: schwer, grau und weiß,

Ein Rauchen, Greifen, Atmen, daß es stinkt.

Eh sie dem heil'gen Tag das Dunkle wild entringt,

Erwachen Nerventräume, blaß und heiß.

 

Fort mit dem süßen Blick! Fort mit dem Kusse!

Hörst du die roten Nacht- und Not- Alarme?

Die heißen, blassen Träume sind verstreut.

 

Mir stehen riesige, liebes-, hasseswarme

Gebäude zu durchwandern weit bereit.

Da unten rollen meine Autobusse!

(Ernst Blass, 1910)

 

 

 

 

 

 

Stadt

Wie schön ist diese stolze Stadt der Gierde!

Ihr Elend und geschmähter Überfluß

Und schwerer Straßen sehr verzerrte Zierde.

 

Schamloser Tag entdeckt dir die Konturen.

Die Häuser stehn befleckt mit Staub und Ruß,

Es flirrt um Eilende und Wagenhaufen

Furchtsame Weiber, Männer, blasse Huren...

 

Ich starre lange in die schnelle Pracht

Ein Dumpfes ahnend drunten im Gedränge -

Ich weiß wie sie des blöden Tages Strenge

Gewaltig preisen: daß er herrschen macht.

 

[ Es zieht sie nur zur wohlumbauten Enge.]

 

Komm! laß uns warten auf die kranke Nacht

Der schweren dröhnenden Gedankenpränge.

(Jakob van Hoddis, 1907/09)

 

 

 

 

 

 

Der Gefangene

Keiner, der durch Vorstadt kreisend zieht,

Weiß, wen er liebt, an welches Weib er denkt.

Manchmal in Caféhaus- Walzerlied

Geschieht ein Blick, der ihn beglückt und kränkt.

Aufschäumt der schönen Jugend Melodie,

Gesicht und Ruhm und erstes Zeitungswort;

Schwarzer Fluß mit schmerzlicher Magie

Erscheint im Westen an dem alten Ort.

Dort lebt ein Herz, das, vielen zugesellt,

Sich tiefer senkte auf des Schicksals Grund;

Ein Herz mit ungeheurer Flamme: Welt -

Das jetzt trübe steigt in unsern Mund.

Noch sind Lokale mitternacht-erfüllt,

Geheul von Bürgern, die wir langsam töten.

Wird sich die ewige Stadt dem Antlitz röten?

Entschreiten wir der Ebene unverhüllt!

Schon aus beklommenem Hirn im Nebelschein

Glüht unterirdisch dumpfer Züge Fliehn.

Da stürzt der Kreisel in die Sinne ein,

Morgen steht - der Morgen über Berlin.

Ihr alle in Gefahr und Liebesgraun:

Wir wollen nach den weißen Pferden schaun.

Es schließt der Kreis sich um Gespenst und Jahr;

Lustfrohe Zeit, auch du, wie wunderbar.

Der süßen Gegenwart entrückter Sinn

Erhebt sich östlich zu der Lichtstadt hin,

Die riesenhaft in singender Gestalt

Am körperlosen Äther dir erschallt.

Die Droschke stolpert, wo wir oft gekniet

Vor einer Dame, welche unbekannt,

Bis ihre Strümpfe, die man plötzlich sieht,

Die unbequeme Lust zerriß und fand.

Als wir müde auf den Korridor

Hintraten, aufgeweckt, ins Schlummerland:

Welch ein Gedanke, wenn am fremden Tor

Noch eine kleine Lampe einsam stand.

Die Jalousie strömt fort in blauem Glanz;

Durch spitze Flächen ins Gehirn läuft Tanz.

Die Transparente über Wolk und Stern

Sind längst vergangen...ja, auch Du bist fern.

Bald stirbt die Nacht am rosa Firmament,

Schon nahen Vögel, die nach Süden ziehn;

Wo bist du, Volk, das meinen Namen nennt?

Die Wolke flammt - der Morgen über Berlin.

(Walter Hasenclever, 1913)

 

 

 

 

 

 

Arrangement

Ein blauer Abendhimmel, stilisiert.

Singvögel, die teils fleuchen und teils kreuchen.

Es tanzen mehrmals komisch an zuviert

Schutzmannskordone mit geschwollnen Bäuchen.

 

Ein Cyrano, teils sehnend und teils sehnig,

Schlägt wundervoll heroische Kapritzen.

Es steigt aus den geschärften Häuserspitzen

Der Mond, ein pittoresker Kegelkönig.

(Ernst Blass, 1912)

 

 

 

 

 

 

Die Nacht

Verträumte Polizisten watscheln bei Laternen.

Zerbrochne Bettler meckern, wenn sie Leute ahnen.

An manchen Ecken stottern starke Straßenbahnen,

Und sanfte Autodroschken fallen zu den Sternen.

 

Um harte Häuser humpeln Huren hin und wieder,

Die melancholisch ihren reifen Hintern schwingen.

Viel Himmel liegt zertrümmert auf den herben Dingen...

Wehleid'ge Kater schreien schmerzhaft helle Lieder.

(Alfred Lichtenstein, 1912)