Analyse: Im Sommer

 

Die im Folgenden aufgeführten Gedichte sind für die expressionistische Lyrik eher untypisch, und ihr Anteil an der gesamten Menge der Gedichte verschwindend gering[230]. Dennoch fallen sie in der in dieser Arbeit aufgestellten Zusammenstellung auf. Denn ihre Bedeutung für die Beziehung der Expressionisten zu Berlin liegt in dem positiven Bild, das jene von der Großstadt im Sommer zeichnen, und das so konträr zu dem Großteil der Lyrik ist, die die Stadt als von Menschen- und Verkehrsmassen dominiertes Gebilde beschreibt, in welcher der Mensch bedeutungslos geworden ist[231].

Wannsee 1923 Wannsee 1908

Eine Art sommerliche Atmosphäre beherrscht die Stimmung dieser Gedichte, die sich auf ganz unterschiedliche Weise niederschlägt[232]. Ruhe und Wärme prägen das Bild in „Sommernachmittag - Berlin 4“:

   Es werfen Schatten kaum die kleinen Kronen

   Der staubbezogenen Bäume auf die Fliesen.

   Und allenthalben sieht man die Markisen,

   Weiß, rot und braun auf schlafenden Balkonen[.]

   (V 5-8).

Menschen sind in diesem Gedicht nur indirekt präsent: einzig die Erwähnung von Käsekellern, Blumenläden und Markisen weisen auf ihre Existenz hin. Berlin scheint menschenleer.

Geradezu bevölkert erscheint hingegen die Stadt in dem Gedicht „Sonntagnachmittag“ (1911, Ernst Blass), das den Vergnügungen der Menschen im Sommer in der Stadt nachgeht[233]:

   Die Töchter liegen weiß auf dem Balkon.

   In Oberhemden spielen Väter Kachten:

   Ein Roundser steigt nach einem Full von Achten.

   - Und singen tut sich eins der Grammophon[.]

   (V 1-4).

Auf den Straßen und in den Cafés sitzend, provoziert das schöne Wetter bei ihnen eine Sehnsucht nach Liebe.

Auf der Spree um 1910Einen Sommerausflug auf der Havel thematisieren die ersten beiden Strophen des Gedichtes „Der Sonntag“ (1911) von Georg Heym. Die Passagiere, der zitierte Berliner Dialekt weist sie als nur einfach gebildete Menschen aus, erholen sich hier vom Alltagsstreß. Inmitten dieser Sonntagsgesellschaft empfindet das lyrische Ich ein Glücksgefühl:

   Und vorwärts schwebst du selig durch die Mitte

   In lichter Kaffeegärten Poesie[,]

   (V 3 u. 4),

das sogar den Gestank der Toiletten als friedlich empfindet.

Laubenkolonie 1906Das Gedicht „Laubenfest - Berlin 7“ (1910, Georg Heym) führt den Leser zu einem Gartenfest in einer lauen Spätsommernacht. Gärten, Stimmengesumm, Musikkapelle und Feuerwerk prägen ein idyllisches Bild der Großstadtnacht.

Diese Sommerstimmung in den vier Gedichten ist nicht an die Natur gebunden, sondern einzig an von Menschen evozierte Aktivitäten.

Die Menschen in „Der Sonntag“ machen zwar eine Dampferfahrt durch die Natur, auf der Havel, aber mit der Natur selbst kommen sie nicht in Berührung, sie blicken nur auf das Ufer und den Wald. Auch das beschriebene „Laubenfest“ in „Berlin 7“ findet in künstlich angelegter Natur statt.

So verwenden die Dichter auch kaum Naturmetaphern für die Beschreibung der sommerlichen Stadt-Atmosphäre[234], im Gegenteil: Georg Heym’s Gedichte prägen an den Stellen, bei denen es um Stadt und Sommer geht, einen fast durchgehend naturalistischen Stil[235]. Das aber führt zu der Frage, inwieweit ein vom Stil her eindeutiges expressionistisches Gedicht mit einer so wie hier aufgeführten positiven Schilderung von Sommer möglich ist, beziehungsweise den Autoren möglich war?

Die angeführten Gedichte zeugen von einem neuen Selbsverständnis der Literaten zur Großstadt. Denn positive Sommergefühle sind nicht mehr nur mit Natur assoziiert[236], oder durch eine Sehnsucht nach der Natur geprägt. Es ist der Sommer in der Großstadt, der in Biergärten und Cafés, auf Balkonen und Dampfschiffen stattfindet, und der hier als positives Erlebnis ausgedrückt wird.

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