Analyse: Häuser

 

Geradezu beängstigend war das Tempo, mit dem sich der Moloch Großstadt in dem halben Jahrhundert zwischen 1870 und 1920 auszudehnen begann[221].

Berlin befand sich seit der Reichsgründung in einer rasanten Entwicklung: Die Wirtschaft expandierte, und die Industrialisierung machte enorme Fortschritte; Fabriken, Banken und Aktiengesellschaften schossen wie Pilze aus dem Boden, die Verkehrsinfrastruktur wurde verbessert, beziehungsweise völlig neu gestaltet, und der Zuzug von arbeitssuchenden Menschen nach Berlin wurde immer größer. Berlin platzte aus allen Nähten[222]. L. Feininger: Gasse 1923

Die räumliche Ausdehnung der Stadt beschreibt Armin T. Wegner in seinem Gedicht „Der Zug der Häuser“ (1909/13). Die Häuser, das sind die neu am Stadtrand entstandenen Wohngebäude, die der Dichter als brutal und rücksichtslos charakterisiert, denn sie zerstören die Natur und damit den Lebensraum der Menschen. Die Personifizierung der Objekte in der wörtlichen Rede spricht ihnen Macht zu und lässt sie unheimlich erscheinen, so dass die Bedrohung, die von ihnen ausgeht, nochmals betont wird:

   Ersticken in Qualm wir. Vor unserer Wucht

   Zersplittern die Bäume, in rasender Schnelle

   Sind alle Menschen im Land auf der Flucht

   Vor unserer steinernen Welle.

   Wir aber erreichen sie doch. Uns hält

   Kein Strom, kein Graben. Wir morden das Feld[.]

   (V 17-22).

Die beschriebene physische Expansion stellt eine Gefahr für die Menschen dar, denn die Häuser wollen sich nicht aufhalten lassen und die ganze Erde in eine betonierte Stadt verwandeln:

   Euch Ebenen, die in das Endlose führen,

   Alle verschlingt unserer Mauern zermalmender Mund.

   Bis wir zum Saume der Meere uns strecken,

   Nie sind wir müde, nie werden wir satt,

   Bis wir zum Haupte der Berge uns recken

   Und die weite, keimende Erde bedecken:

   Eine ewige, eine unendliche Stadt!...“

   (V 33-39).

Die Ausdehnung der Häuser ins unermessliche bedeutet die Ausdehnung der Stadt auf die gesamte Erde: Die Stadtgrenze wird zur Weltgrenze.

Auch Georg Heym beschäftigt sich in seinem Gedicht „Die neuen Häuser“ (1910) mit den Neubauten am Stadtrand, die er hier allerdings nicht als bedrohend, sondern als mitleiderregend beschreibt, und die den Menschen, die in ihnen wohnen werden gleichgestellt sind: Berliner Mietskaserne um 1900

   Wie Pilze gewachsen, und strecken in ihren Gebresten

   Ihre schwarzen und dünnen Dachsparren himmelan,

   Klappernd in ihrer Mauern schäbigem Kleid

   Wie ein armes Volk, das vor Kälte schreit[.]

   (V 5-8).

Berlin wuchs, es wurde an allen Ecken und Enden der Stadt gebaut. Doch die durch das Wachstum neu entstehenden Probleme wurden nicht bedacht, und erforderliche Umgestaltungen nicht in Angriff genommen.

So stehen neben Versen wie diesen, „in denen die Maßlosigkeit großstädtischer Dimensionen beklagt wird“[223], lyrische Darstellungen von der Enge der Häuser, in denen Menschen eingepfercht wie Vieh hausen müssen, gegenüber.

Die so genannten Mietskasernen prägten seit den Gründerjahren das Bild der Hauptstadt. Ursprünglich nach dem Vorbild Paris konzipiert - als Blockbebauung mit geschlossenen Platz- und Häuserwänden - geschieht die bauliche Umsetzung der Wohnblöcke nur im Interesse an eine Maximierung des Profits[224]. Charakteristisch sind die aufwendig gutbürgerlichen Vorderfassaden, hinter denen eine Bebauung bis zu 150 Metern Tiefe mit mehreren Quergebäuden und Höfen üblich war. Die Hinterhöfe mussten ursprünglich nur 28 qm groß sein, denn als einziges Kriterium galt hier, dass sich eine Feuerspritze darin drehen lassen müsse. Belüftung und Licht waren kein Maßstab für die Bebauung[225].

Das Gedicht „Hinterhaus“ (1911) von Oskar Loerke beschreibt diesen Zustand der Enge und Dunkelheit:

  

   In kalten, steifen Engen,

            An gelben Schornsteinlängen,

            Verirrten Schieferdächern,

            Verstaubten Lukenfächern,

            An braunen glatten Röhren,

            An roten Drahtes Öhren,

            Verblichnen blauen Flecken

            Und blechbehuften Ecken

   Liegt Sonne, wie nach Winkelmaß gemessen

   Und wie von einem Handwerksmann vergessen[.]

(V 1-10).

 

Hinterhaus 1918

Im Wilhelminischen Berlin waren cirka 48 Prozent aller Berliner Mietwohnungen Hinter- oder Seitenhauswohnungen, in denen Hunderte, manchmal bis zu Tausend Menschen lebten[226]. Die als Mietskasernen charakterisierten Wohngebäude veränderten die soziale Struktur der Bevölkerung und steigerten das Elend der Menschen, die hier leben mussten. Der berühmte Berliner Künstler Heinrich Zille hat das in seinen Bildern und Fotographien eindrucksvoll dargestellt.

Die expressionistische Behandlung des Themas geht in ihrem Ich-Bezug über solch eine rein naturalistische Präsentation hinaus. Das zeigt das Gedicht „Überwältigung“ (1916, Oskar Loerke), in dem das Verhältnis von Großstadt und lyrischem Ich sich auch in der Beschreibung der grauen und kalten Häuser wiederspiegelt:

   Die Häuserblöcke stehn so grau wie Asche,

   Die Ferne ist wie aschenstaubverstellt[.]

   (V 17 u. 18).

Das vom Ich beschriebene sichtbare Elend der Großstadt zeigt seine inneren Gefühle. Die urbane Wirklichkeit empfindet es als schmerzhaft und hoffnungslos:

   Da frierts die Steine und die Steine schreien.

   Du blutest ja, mein Herz, du, komm nach Haus.

   Dort in der Höfe Steinzisternen weinen

   Die Brunnen der Melancholie sich aus[.]

   (V 25-28).

Als einen realen Albtraum empfindet das lyrische Ich die Wohnsituation in einem Hinterhaus in Oskar Loerkes Gedicht „Der steinerne Wabenbau“ (1911). Die utopische Vorstellung einer Gesellschaft, deren Mitglieder - wie Insekten in Waben - in engen und düsteren Wohnungen hausen müssen, scheint mit dem Blick in diese Wohnverhältnisse bereits wahr geworden zu sein:

   Ich träume wach in finstrem Mauerkäfig,

   Mir öffnet sich das Hinterhaus...ich sehe:

   Da liegt der Wabenbau aus Ziegelstein,

   Schwermütiger, je weiter er sich reckt.

   Und tausend Jahre älter scheint die Stadt,

   Denn, was in tausend Jahren wird, ist heut[.]

   (V 9-14).

Das Hinterhaus stellt die negative Version der modernen zukünftigen Stadt dar, deren Gestaltung einzig vom Profit abhängig ist, und somit allein vom Großkapital bestimmt wird ohne jede Rücksicht auf soziale und menschenwürdige Lebensaspekte.

Spandauer Strasse 1903

 

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