Die Gedichte dieses Kapitels zeichnen sich durch ihren Appellcharakter aus. Auffällig ist, dass sechs von acht Gedichten den Namen Berlin im Titel tragen. In solch einer Häufung ist das in keinem anderen Kapitel dieser Arbeit der Fall. Es soll im Folgenden der Zusammenhang zwischen Aufruf und der Stadt Berlin herausgestellt werden. Der zeitliche Schwerpunkt dieser Auswahl liegt auf der späteren Phase des Expressionismus[249]. In Berlin als der neuen Hauptstadt konzentrierte und potenzierte sich der wirtschaftliche Aufschwung der Gründerjahre und veränderte damit auch schlagartig das Bild der Stadt[250] wie auch die Gesellschaft selbst, während das Denken der Bürger und die Politik des Staates noch auf alten Formen und Strukturen basierte. Die Dichter wurden von dieser Situation geprägt, indem sie einerseits offen für Neues und Modernes waren, aber andererseits noch älteren Denkweisen und Gesellschaftsmodellen verhaftet blieben[251]. Die Vereinigung von Konservatismus und einer tiefgreifenden Sehnsucht nach Erneuerung charakterisiert die expressionistischen Lyriker und fand in ihrem radikalen Willen zum Aufbruch seinen Ausdruck[252]. Dieser äußerte sich zunächst in der so genannten ,Messianischen O-Mensch Dichtung’, von deren Dominanz in Pinthus’ Menschheitsdämmerung bereits die Rede war[253]. Der Fokus dieser Dichter lag auf Brüderlichkeit und dem Aufbruch zu einer neuen Gemeinschaft. Diese Dichtung, Giese nennt sie „Gesinnungslyrik“[254], spielte tatsächlich eine große Rolle in der Bewegung, besonders aufgrund der Vielzahl an Veröffentlichungen. Allerdings lehnte ein Großteil der expressionistischen Dichter - vor allem die Vertreter des Frühexpressionismus – diese Thematik auch strikt ab. Die O-Mensch Gedichte sind typisch für die zweite Hälfte des expressionistischen Jahrzehnts, wobei die entscheidende Zäsur im Ersten Weltkrieg zu sehen ist. Vor dem Ersten Weltkrieg bezeichnete der Gedanke des Aufbruchs in der Lyrik noch eine Vision des Untergangs, beziehungsweise des Aufgangs. Gemeinsamer Nenner dieser beiden Zustände war die Intensität des Erlebten[255]. Eine Aufzählung von Naturkatastrophen ist maßgeblich für die Stimmung in Johannes R. Bechers Gedicht „Berlin“ (1914), das letztlich in der Beschreibung des Jüngsten Gerichtes endet: Einst kommen wird der Tag!... Es rufet ihn der Dichter, Daß er aus Ursprungs Schächten schneller her euch reise! Des Feuers Geist ward der Geschlechter Totenrichter. Es zerren ihn herauf der Bettler Orgeln heiser. Einst kommen wird der Tag!... Da mit des Zorns Geschrei Der Gott wie einst empört die milbige Kruste sprengt. Im Scherbenhorizonte treibt ein fetter Hai, Dem blutiger Leichen Fraß aus zackichtem Maule hängt[.] (Strophe 19 u. 21). Die von den Menschen und ihrer Zivilisation geschändeten Elemente rächen sich, die Städte sind dem Untergang geweiht. Der hier ausgedrückte Hass auf alles Großstädtische findet sich in vielen Gedichten des Frühexpressionismus[256]. Der Appellcharakter des Gedichtes besteht nur indirekt: die Darstellung diverser großstädtischer Schreckensvisionen soll die Menschen aus ihrer Gleichgültigkeit herausreißen und wieder zu ihrem Ursprung zurückfinden lassen. Die Faszination und das Grauen, das dem Individuum in der modernen und von Technik bestimmten Welt widerfährt, hat Kurt Pinthus sehr eindrucksvoll im Bild der Menschheitsdämmerung zusammengefaßt, das sowohl den Sonnenuntergang als auch die Morgenröte impliziert. Von einer Revolution kann bei den frühen Werken der „Gesinnungslyriker“ also nur partiell die Rede sein, denn statt unter den Arbeitern zu agieren, suchten sich die Dichter Gleichgesinnte in gesellschaftlichen Außenseitern wie Bettlern, Huren und Geisteskranken. Erst im weiteren Verlauf der Bewegung äußert sich die oben fixierte Aufbruchsstimmung vor allem in dem Aufruf an die Massen. Diese Thematik soll im Folgenden der Gegenstand meiner Betrachtung sein. Während des Ersten Weltkrieges verlor die Idee des Aufbruchs zu einer neuen Menschheit, deren revolutionäres Potential allein in den freigesetzten Energien bisher unterdrückter Söhne aus ,gutem Hause’ und der von ihnen verklärten gesellschaftlichen Randschichten besteht[257], an Gehalt. Die Dichter erkannten, dass wirkliche Umwälzungen nicht ohne die großen Massen der Arbeiter zu bewerkstelligen waren. Damit erhielt die Stadt einen neuen Stellenwert, denn damit wurde Berlin als Ort der neuen Massen, der Streiks und der Demonstrationen literarisch erkannt[258], was auch das Übergewicht Berlins in der Namensgebung vieler Gedichttitel erklärt. Hinton Thomas bemerkt, dass die schon von Theodor Geiger aufgezeigte Problematik des Begriffes „Massengesellschaft“ im gesellschaftlichen und politischen Kontext „vor dem Hintergrund des fortschreitenden Kapitalismus“[259] gesehen werden muss: Erst die wachsende Arbeiterschaft in Berlin und in anderen industriellen städtischen Zentren führte zur Wahrnehmung ihrer physischen Gegenwart. Ihre Organisation in Gewerkschaften[260], die einher ging mit dem wachsendem Einfluß der Sozialdemokraten, bestärkte nicht nur ihr eigenes Machtbewußtsein, sondern führte auch zu dem öffentlichen Bewußtsein, Arbeiter als Großstadtvolk und als Masse zu verallgemeinern[261]. Berlin Scharlachkürbis zerbeulte Frucht ins Netz der Himmel schlagend. Wo Mensch=Ameise schwirrt im jähesten Fabelreich elastischer Korridore. Wann wirst Du Volk empor aus jener Wildnis tagen!? (... du Tat aus Geist geboren...) Du Volk-: Gewalt, aus der dein Dichter brennt. Du Volk versklavt in Gründe Mords gerissen. Du Volk entführt im Mörser Brei zerschmissen. ... behelmt der Stirnen Schauer=Firmament... („An Berlin“, 1918, Johannes R. Becher). Diese Allgegenwart der Masse machte die Auseinandersetzung mit ihr auf einer neuen geistigen Basis um so dringlicher. Jetzt beginnen die Lyriker, sich an ein neues und vor allem größeres Publikum zu wenden. Neben den Veröffentlichungen in expressionistischen Zeitschriften und Verlagen sollen lyrische Vorträge auf Versammlungen, in Kabaretts und Caféhäusern das Publikum aufrütteln, und sogar Flugblätter und Plakate werden verteilt, um die Öffentlichkeit zu erreichen[262]. Das gewaltige Potential der Arbeiter-Masse wird von den Dichtern als politische Kraft erkannt. Rudolf Leonhard stellt den proletarischen Aufstand in seinem Gedicht „Der tote Liebknecht“ (1914/18) als Fabriksirenengeheul dar, das als Konsequenz auf die Ermordung Karl Liebknechts erfolgt: Da beginnen Fabriksirenen unendlich lange dröhnend aufzugähnen, hohl über die ganze Stadt zu gellen. Und mit einem Schimmer auf hellen starren Zähnen beginnt seine Leiche zu lächeln[.] (V 5-13). Viele Dichter richteten ihre Manifeste jedoch nur an Intellektuelle und dachten dabei in den wenigsten Fällen an eine Zusammenarbeit mit der Arbeiterklasse. Ein seltenes Beispiel für eine Kooperation mit dem Proletariat nennt Jost Hermand: So erließ etwa der Arbeitsrat der Berliner Novembergruppe 1919 einen Aufruf an alle ,radikalen Künstler’, ihre Kräfte in den Dienst des gesamten Volkes zu stellen und an der Überwindung der Kluft zwischen Proletariat und bürgerlicher Bildungsschicht mitzuwirken[263]. Die meisten Lyriker fühlten sich als Vertreter einer geistigen Avantgarde und sahen sich den Arbeitern gegenüber eher als geistige Elite, denn als Verbündete[264]. In der Lyrik zeigt sich der Gestus des Aufrufs und des kollektiven Bekenntnisses in der Sprache des Manifestantismus und des Pathos[265]. Die häufige Verwendung von Hymnen beziehungsweise Oden fällt dabei besonders ins Auge: Dein Herz von Asphalt
Proleten werfen es in die Scheiben des Jahrhunderts Und dein elektrisches Auge brennt über hängenden Gärten gelbe Untergrundbahn Flieht zu lieblichen Quellen des Abends
Berlin du Bar des Planeten Wie ich Urzeit spüre! Unterwelten entsteigt der Autobus Hirne braun gebacken bei Kempinsky
Fett befingerter Prophet Über preußischblauen Postbeamten Bruder: ach es schwankt die Himmelsachse Klappt dir den Zylinder zu („Ode an Berlin“, Strophe 1-3). Die von den Expressionisten benutzen rhetorischen Mittel stellen sich stilistisch zum Teil als moderne politische Massenagitation dar[266]. Erstmalig findet dabei die Sprache der Ideologie in der Literatur Verwendung, und wird so integrierter Teil der literarischen Sprache[267]. „Gebt Raum auf Halden, Werften, Glacis, gebt Raum auf Rasen, Blumenbeet und Kies dem Mai, der unsere Kehlen heimsucht als ein Schrei!“ („Mai-Nacht (1911)“, Paul Zech, 1913, V 12-14). Mit dieser Ausdrucksweise soll ein größeres Publikum angesprochen werden. Die sich in den Großstädten als Masse neu darstellende Gesellschaft spielt in dieser Dichtung also eine entscheidende Rolle. Deshalb kann die spätexpressionistische Lyrik nicht ohne ihren Bezug zur Massengesellschaft gesehen werden. Hinton Thomas weist darauf hin, daß die von Freud als Kennzeichen dieser Massengesellschaft hervorgehobenen Züge in mehr oder minder ausgeprägter Weise Elemente des Expressionismus bilden[268]. Die von Freud beschriebenen Merkmale einer Massengesellschaft sind: 1) die Ausrichtung von Gedanken und Gefühlen in die gleiche Richtung, 2) der Schwund der Einzelpersönlichkeit, 3) die Vorherrschaft von Affektivität und des Unterbewußtseins sowie 4) die Tendenz zu sofortigem Handeln bei heraufkommenden Absichten. Im Expressionismus stellt sich die Adaption dieser vier Faktoren wie folgt dar: 1) und 2) die Betonung der Gemeinschaft und ein ausgeprägtes Kollektivbewußtsein im Messianischen Expressionismus, 3) die Auflösung des Ich mit dem Wunsch nach Entgrenzung und der Betonung der inneren Gefühlswelt und 4) generell die Spontanität des expressionistischen Ausdrucks im Gedicht als literarisch schnell umsetzbare Form. Die in der Lyrik geäußerten Appelle haben dabei oft etwas Vages an sich. Peter Christian Giese stellt fest, dass je pathetischer der Inhalt dargeboten wird, desto weniger Substanz enthält das Gedicht[269]. Die Verse sind nur mehr an die Emotionalität des Lesers gerichtet, und lassen den konkretem Sinn der Aussage in den Hintergrung treten. Dabei kann es wie in Johannes R. Becher’s Gedicht „Berlin! Berlin!“ (1916) zu einer Häufung banaler Metaphern kommen: Zementene Rose, rings von kalten Flecken Laternenkuppeln magisch überbaut: Um Röhrenhals ein Zirkusamulett die Hecken. Azure jähe stürzen aus asphaltenen Becken. Du goldenen Südens langerweinte Braut! Zerhackter Kindheit Traum. Katholische Legende. Am Abgrundweg du freie Morgenwende (V 1-7), oder wie bei Iwan Goll in dem Gedicht „Ode an Berlin“ (1918) zu einer aufgespreizten Feierlichkeit[270]: Hymnen schreibt der rote Redakteur! Und die Orgeln brausen: O Susanne! Heilige Rosen blühen im Landwehrkanal Letzte Rose von Deutschland!
Alles Gold zerrann zu Freibier Lockernd den Asphalt des Mob - O Berlin, du Nessel am Kreuzweg des Ostens Dorre an deinem Staube bröckle Vergessenheit (Strophe 8 u. 9). Iwan Golls sentimental pathetisch überhöhte Darstellung der ermordeten Rosa Luxemburg wird dabei zum Märtyrertum verklärt, wohingegen die politische Überzeugung der Ermordeten unerwähnt bleibt. Die Lyrik des, Peter Christian Giese nennt es „gefühlsmäßigen Sozialismus“[271], erscheint heutigen Lesern deshalb oft peinlich-geschmacklos. Ziel der Aufruf-Gedichte war es, solidarische Gefühle beim Rezipienten zu wecken, eine Revolution des Geistes zu beginnen, die eine politisch-gesellschaftliche Revolution nach sich ziehen soll. Dabei wird die politische Intention oft zu einer religiösen Verheißung[272]. Statt politische Überzeugung zu vermitteln, wird seelische Ergriffenheit dargestellt - die Gedichte sind gefühlsbetont und bleiben politisch vage. Es existiert deshalb auch kaum politische Lyrik, was eigentlich erstaunt, weil sich einige Dichter, darunter Johannes R. Becher und Rudolf Leonhard, aktiv in der Politik engagierten[273]. Dasselbe gilt für den in den Gedichten immer wieder thematisierten Aufruf zur Revolution: Auch hier geht es den Autoren nicht um gesellschaftliche Veränderungen, sondern um vage Vorstellung einer brüderlichen Gemeinschaft und einer künstlerisch-schwärmerischen Vorstellung von einer gesellschaftsverändernden Kraft. Georg Heym beschwört in „Berlin 8“ (1910) die Ideale der Französischen Revolution: Ein Armenkirchhof ragt, schwarz, Stein an Stein, Die Toten schaun den roten Untergang Aus ihrem Loch. Er schmeckt wie starker Wein. Sie sitzen strickend an der Wand entlang, Mützen aus Ruß dem nackten Schläfenbein, Zur Marseillaise, dem alten Sturmgesang[.] (Strophe 3 u. 4). Wie in anderen expressionistischen Gedichten wird eine historische Revolution hier zum Synonym für ein allgemeines Gefühlserlebnis[274]. An Kritik und Zweifel bezüglich der Echtheit des so beschworenen Pathos fehlt es in der Forschungsliteratur nicht[275]. Doch im historischen Kontext von nationalistischen Kriegs- und Völkerhaßparolen bekommt der Gedanke der Weltverbrüderung und Menschenliebe ein anderes Profil[276]. Den expressionistischen Dichtern ist anzuerkennen, dass sie sich mit gesellschaftlich-politischen Fragestellungen beschäftigt, und mit ihren Werken die breite Öffentlichkeit suchten. Erstmals erkannten sie dabei Berlin als politisch bedeutenden Ort der Massen. Die Aufruf-Gedichte zeigen, dass für die Literaten eine wie auch immer geartete Revolution oder Umwälzung der Gesellschaft ohne die Massen und ohne die Großstadt nicht mehr denkbar wäre. Berlin wird hier zum politischen Dreh- und Angelpunkt.
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