Analyse: Am Fenster

 

Das Fenster verbindet die äußere Welt mit der privaten, dabei öffnet es das Außen dem Inneren und umgekehrt. Es wird zum Brennpunkt in der Konfrontation zwischen öffentlichem und privatem Raum[237].

In dem Gedicht „Regen“ (1912, Ernst Blass) konfrontiert der Blick aus dem Fenster das Innere des lyrischen Ichs mit dem Äußeren: Das Ich lehnt verzweifelt die Stirn an die Fensterscheibe (V 10) und betrachtet ruhig den heftigen Regen auf der Straße (V 8).

Das Außen dringt durch das Fenster ins Private ein, das Gedicht bekommt autobiographische Züge: Der Dichter, der mit seinem Werk hinaus an die Öffentlichkeit geht, gibt auch ein Stück weit seinen persönlichen Raum der Öffentlichkeit preis.

   Und die Genossen der verflossnen Nächte

   Sind plötzlich deiner Seele furchtbar nah

   Und stehen stumm und tötend um dich da.

   Und es ergrauten schon geputzte Prächte[.]

   (V 1-4).

Die Auseinandersetzung mit der Außenwelt, das könnten in diesem Fall Dichterkollegen sein, aber auch mit dem eigenen Ich - als Selbstkritik sozusagen - wird zur zur Schaffenskrise. Das Innere, der private Raum, wehrt sich gegen die Vereinnahmung von Außen, gegen die Konkurrenz und die Kritik. Ebenso lässt ihn die Stadt verzweifeln:

   Unirdisch klingt Getöse von Berlin.

   Und es regieren grausige Magien[.]

   (V 5 u. 6).

Das Ich ist dem „unirdisch[en]“ Treiben (V 5), dem Ansturm auf seine Sinne, nicht gewachsen. Das unheimliche Szenario des nächtlichen Regens spiegelt den seelischen Zustand des Subjektes wider. Das Dasein in der Großstadt und die Existenz als Dichter scheinen bedroht. Aber noch trennt das Fenster den einen vom anderen.

C. Felixmüller: Tod des Dichters... 1924Das Gedicht „Pause“ (1913) wirkt, da es ebenfalls von Ernst Blass verfaßt ist, wie eine Fortsetzung dieser Auseinandersetzung zwischen Innen und Außen: Die Straße, das Draußen, gewinnt die Oberhand, denn das Fenster ist geöffnet und trennt die beiden Zustände somit nicht mehr. Damit wird das Fenster zum Tor nach draußen. Da das ganze Gedicht auf eine Art Erleuchtung, beziehungsweise Erlösungszustand, des lyrischen Ichs hinausläuft,

   Und nicht länger sucht’ ich den Dingen Namen -

   Alles Verhüllte war geisterhaft klar - - -

   (V 5 u. 6),

kann das Fenster sowohl für die Ernüchterung des Ichs:

   Und durch die geöffneten Fenster kamen

   Luftzüge kalt und wunderbar[.]

   (V 7 u. 8),

als auch als metaphorisches Bild der Tür zum Tod stehen, als ein ersehnter Zustand der Befreiung.

Ernst Blass macht mit den Gedichten „Regen“ und „Pause“ auf die Haltlosigkeit des Individuums in der Stadt aufmerksam, das keine Rückzugsmöglichkeit mehr hat, denn die Stadt weitet sich aus und dringt ins Private vor, wo sie als Eindringling stört. Wieder zeigt sich die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der Übermacht der Stadt.

Die zwei Gedichte verdeutlichen aber auch die Situation eines Dichters, sich trotz Konkurrenz und Leistungsdruck als Künstler in Berlin zu behaupten.

In Georg Heyms Gedicht „Berlin 3“ (1910) beobachtet ein lyrisches Ich, das erst in der vierten Strophe durch die Benennung „Wir“ direkt gekennzeichnet wird, das Geschehen in einem Hof (wahrscheinlich ein Hinterhof) aus einem Zugfenster. Diese in den ersten beiden Strophen beschriebene Szenerie ist traurig: Drei Männer spielen leise und schüchtern im Regen Geige, wahrscheinlich, um sich Almosen zu verdienen. Einer von ihnen ist blind, und das Haus, in dessen Hof sie spielen, ist alt, so dass sich die Männer nicht viel Geld von ihrem Spiel erhoffen können. Das Fenster ist auch hier Ausgangspunkt. In der dritten Strophe nimmt dann das lyrische Ich – immer noch vom Zugfenster aus - einen Mann wahr, der ebenfalls am Fenster stehend, die Welt draußen betrachtet.

   Indes am niedren Bodenfenster oben

   Ein alter Mann sah auf zur Wolkenfalle

   Die stürmend sich am grauen Himmel schoben[.]

   (V 9-11).

Beide sind in der Beobachterrolle als passive Betrachter durch das Fenster abgeschirmt von dem, was sie sehen. Die Distanz zwischen Drinnen und Draußen wird erst in der letzten Strophe aufgehoben: Das lyrische Ich fährt mit den anderen Zugpassagieren („Wir“) in die Bahnhofshalle, wo sich die Türen der Bahn öffnen, und das Bahnhofsgetümmel als Lärm und Menschenmassen auf das Subjekt einstürzen:

   Der Zug fuhr an. Wir brausten in die Halle

   Des Bahnhofs ein, die voll war von dem Toben

   Des Weltstadtabends, Lärm und Menschenschwalle[.]

   (V 12-14).

Das Fenster steht in den hier beschriebenen Gedichten als eine Art „innerstädtisches Sinnesorgan“[238] für die Trennung von Innen und Außen, Privatem und Öffentlichem, sowie von Ich und Stadt.

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