Zur Sprache expressionistischer GroßstadtlyrikDie neue Großstadterfahrung der jungen expressionistischen Dichter bestimmt fortan auch die Konstruktion ihrer Lyrik. Die Verstädterung der Welt und das Erlebnis Stadt haben tiefgreifend auf die Literatur eingewirkt. Stadt als literarischer Gegenstand hat die künstlerischen Mittel, den sprachlichen Ausdruck ebenso wie literarische Techniken verändert [118]. Wie macht sich diese Veränderung nun bemerkbar? Was aber den ,Stil’ angeht, so verneinen wir die deutsche Einheitsedelsprache. (...) Wir meinen, daß jedweder Stil absolut gut sei - wenn er nur dem Stilisierten adäquat ist[119]. Die repräsentativste Gattung des Expressionismus, vor allem in der frühen Phase, ist die Lyrik. Gegenüber den anderen Gattungen hat ein Gedicht den Vorteil, dass es schneller und entschiedener auf das Tagesgeschehen eingehen kann als es Drama oder Roman vermögen. Denn es ist ist aufgrund seines - im Vergleich - geringeren Umfangs, schneller und einfacher zu veröffentlichen und damit dem aktuellen Stadtleben näher[120]. Isernhagen bezeichnet den Expressionismus deshalb auch als „ganz ausgeprägte Augenblickskunst“, da er sich nicht für längere fiktionale Texte eigne[121]. Die neue Dichtergeneration lehnte die bisherige literarische Tradition ab[122]. An die Stelle von Naturlyrik setzte sie Großstadtlyrik[123], welche mit einer neuen Ausdrucksweise, die hier im weiteren Verlauf als expressionistisch-großstädtisch herausgestellt werden soll, provozierte. Das Ambivalente an diesem Traditionsbruch[124] ist, dass die meisten Autoren in den tradierten Formen der Lyrik, wie zum Beispiel der häufig verwendeten Form des Sonetts, verbleiben, anstelle sich neue Ausdruckswege zu suchen[125]. Dieser Widerspruch wird in allen Analysen zum Stil expressionistischer Lyrik als bedeutend hervorgehoben, aber dabei wird meist nicht gesehen, dass gerade hierin das Provokative der Gedichte liegt. Die von den Expressionisten benutzten - und in dem damaligen Kunstverständnis noch sehr anstößigen - Themen wie Tod, Verwesung, Häßlichkeit und Elend verstärken ihre Wirkung gerade in den bekannten traditionellen Formen der Lyrik. Die Diskrepanz von Inhalt und Form schockt. Die Form wird hierbei sozusagen vom Inhalt ,mißhandelt’. Der typische Sprachgestus des Expressionismus ist seine spezifische und ganz konkrete Antwort auf die von ihm wahrgenommene Krise der Kultur[126]. Die Dichter hatten mit der „Tradition rosenumrankter Erlebnislyrik“ gebrochen[127], das Häßliche wurde nun zum Hauptmotiv ihrer Lyrik. Die Irritation über diesen neuen Stil beschrieb ein Journalist des Berliner Tageblatts, indem er einen Vortragsabend des ,Neopathetischen Cabaretts’ als lyrische Parodie widergab: Gestern die schöne Frühlingsnacht Hab ich höchst jammervoll zugebracht Bei den Gemälden im Haus Cassierer Jedoch beileibe nicht wegen ihrer; Sondern wegen der neuen Richtung Genannt die Neopathetische Dichtung. Es sassen zwei Leute; es stand ein Trupp - Das Ganze hiess ,Der neue Klub’. Gepflegt wurde hier die Poesie. Von Jüngern der Neuropathologie. - Da sass eine allerliebste Kleine; Ich sagte zu mir: ,Für diese Eine Verrat ich die ganzen Pathetiker’. (So denkt natürlich kein Ethiker.) Und in Betrachtung dieses Gesichts Hörte ich Worte, verstand aber nichts. Am Tisch sass ein Jüngling und fügte Sätze Zu einem greulichen Kunstgeschwätze, Die Worte fielen in starrem Krampf, Andre verschwammen in Nebeldampf, Und Bilder, die reine Gedärmverschlingung, Bezeugten die neopathet’sche Gesinnung; Es troff von Blut und anderen Sachen - Man lachte zwar, aber’s war nicht zum Lachen. ... (vom 18. 05.1911)[128] In der Expressionismus-Forschung wird immer wieder betont, dass es keinen einheitlichen expressionistischen Stil gebe. Statt dessen herrsche eine verwirrende Vielfalt an Themen, Formen und Tendenzen. Dennoch sind durchaus Motivkomplexe in der Dichtung zu finden. Zu einem der wichtigsten im Expressionismus gehört „die Großstadt“. Auch auf der Suche nach einer spezifisch expressionistischen Sprachform trifft man auf häufig wiederkehrende Stilmerkmale wie die Groteske, den Reihungsstil und die Verwendung von Naturmetaphern. Besonders der Reihungsstil und die Groteske sind zwar typisch expressionistisch, aber sie sind für ,den Expressionismus’ nicht verbindlich[129], das heißt, es existieren zahlreiche lyrische Beispiele, die ohne Groteske oder Reihungsstil auskommen, und dennoch expressionistisch sind. Unter dem Reihungsstil versteht man das „Prinzip der simultanen Wahrnehmung“[130]. Eine Folge unzusammenhängender Bilder wird aneinandergereiht, und mit genau dieser Zusammenhanglosigkeit versuchen speziell die Autoren des Frühexpressionismus die Großstadtwirklicheit lyrisch zu erfassen. Der Reihungsstil zeigt die großstädtische Erfahrung der Autoren von Tempo, Unruhe und Diskontinuität: Schließlich steckt aber im Reihungsstil neben den ideologischen Momenten ein Stück Realitätserfahrung, eine sinnliche Wahrnehmung der heftig flukturierenden Realität der Großstadt: mit ihren vorüberhastenden Menschenmassen, ihrem rasenden Verkehr, ihren ständig wechselnden optischen Signalen der Reklameschilder, Verkehrszeichen, Schaufenster[131]. Die Erfahrung der Dichter in der Großstadt, die geprägt ist vom Wert- und Normverlust moderner Strukturen im ruralen Raum, die zur Orientierungslosigkeit und zum Identitätsverlust des Einzelnen führen, finden in der literarischen Groteske eine ihrer Ausdrucksformen. Deshalb ist die Groteske die Grunddimension des ideologiekritischen Expressionismus[132]; sie prägt Gedichte von Jakob van Hoddis, Alfred Lichtenstein, Ernst Blass und anderen. Ironische und parodistische Stilmittel findet man vor allem in den Gedichten der Autoren des ,Neopathetischen Cabaret’, weil sie zum Vortragen vor Publikum konzipiert wurden und auf eine dementsprechende Wirkung aus waren. An die Form der gesellschaftkritischen Groteske hat später der Dadaismus angeknüpft und sie weitergeführt. Die Groteske in Verbindung mit dem Reihungsstil war „geradezu eine Spezialität des Berliner Frühexpressionismus“[133], die die großstädtische Wirklichkeit ,realistisch’ als verwirrende Vielfalt der äußeren und inneren Eindrücke des Großstadtlebens in ihrer Gleichzeitigkeit nachbildet[134] oder aber als bewusste Verzerrung ironischer Selbstkritik darstellt[135]. Der Lebensraum der Dichter war die Großstadt. Trotzdem stammte das literarische Material ihrer Werke zum großen Teil aus der Naturlyrik. Es handelt sich bei den Gedichten aber nicht um Landschaftsgedichte oder Naturlyrik im traditionellen Sinn, denn die Naturphänomene dienen als Metaphern für die Beschreibung der modernen Großstadtrealität. Die Metaphorik der modernen Großstadt entsteht nicht zuletzt aus dem Versuch, ihre Erfahrung als eines Neuen im Rückgang auf die überlieferten Erfahrungen an der Natur zu bewältigen. Das Häusermeer und die Steinwüste, der Urwald, Dschungel oder das Dickicht der Städte sind solche Rückversicherungen, mit denen das hochgradig komplizierte Artefakt Großstadt vor allem in seinen als monströs erscheinenden Zügen an die Natur und nicht selten mehr oder weniger untergründig an die Erfahrungsform des Erhabenen gebunden wird, wie sie dort, angesichts drohender Felsen, am Himmel sich auftürmender Donnerwolken, zerstörender Vulkane und des von Orkanen aufgepeitschten grenzenlosen Ozeans, bereits theorisiert worden war. Die Rückverwandlung der Stadt in Natur, der Umschlag von höchster Zivilisation in tiefste Wildnis und Öde ist als Schreckbild in der naturbezogenen Metaphorik stets gegenwärtig [...][136]. Aus der Perspektive des Großstädters schaffen die Expressionisten eine Abgrenzung und ein Gegenbild zur lyrischen Tradition, da sie die Erwartungen an Natur- und Stimmungslyrik ironisch brechen[137]. Das kann frech und vital wirken, oder aber seelische Zustände wie Angst und Zerrissenheit ausdrücken. Bei Georg Heym oder Johannes R. Becher werden Naturmetaphern zunehmend zu Fragmenten: Aus den Naturbildern ist die Natur selbst entwichen und hat allein Chiffren übriggelassen, die auf die Stagnation der zivilisatorischen und gesellschaftlichen Realität verweisen[138]. Die klassische Naturlyrik wird ersetzt durch eine so noch nicht dagewesene Großstadtlyrik. Weitere Ausdrucksmittel des expressionistischen Gedichts waren das Schreiende, das Plakative und das Ekstatische[139]. Damit entsprechen die Autoren immer mehr dem „allgemeinen Trend zum Großstädtischen“[140]. Über die Themen und Motive hinaus stellten die lyrischen Werke in ihren ästhetischen Mitteln, ihren Formen, Genren und Techniken einen nicht mehr wegzudenkenden Bezug zur Großstadt her. Dabei gab der großstädtische Medienalltag, bestehend aus Film, Presse, Telegramm und Plakat, wichtige Anregungen und floß stilistisch zu einem großen Teil in die Lyrik mit ein[141]. Das geschah in allen drei Künsten: die Malerei wurde bunter und schreiender, die Literatur zeigte immer krassere Motive und die Musik tendierte zu Großstadtlärm: Diese Kunst hat nichts ,Natürliches’, so oft sie es auch beteuert, nichts Ländliches, Elysisches, Bukolisches, sondern ist knallharte Großstadtkunst, die sich mit allen Mitteln der reklamehaften Übertreibung, das heißt des Kolportagehaften, Reißerischen, Hingeklotzten, mitten auf den Marktplatz der Sensationen stellt. Wie auf einem Plakat wird bei ihr alles ins Essentielle, Begriffliche, Chiffrehafte reduziert und depersonalisiert[142]. Großstädtisch, das kann aber auch bedeuten, die eigenen Erfahrungen mit der Stadt dem Leser, beziehungsweise dem Zuhörer, im Gedicht mitzuteilen, genau wie eine gewisse Nüchternheit in der Beschreibung des Großstadtalltags den großstädtischen Stil von Lyrik ausmachen kann. Auch die im späteren Verlauf des Expressionismus dominierende Adressierung eines Massenpublikums[143] kann als solcher verstanden werden. In der rhetorischen Umsetzung bedienten sich die Dichter deshalb emotionaler Ausdrucksmöglichkeiten wie Pathos, Enthusiasmus, Ekstase oder Superlative, oder sie versuchten mit einer Verknappung der Sprache, sowie Klarheit, Sachlichkeit und Nüchternheit im Ausdruck rational an ihre Leser heranzutreten. Deutlich wird im Hinblick auf die Sprache und den Stil vor allem eins: Die Stadt ist in der expressionistischen Lyrik präsent auch wenn sie nicht explizit zum Thema gemacht wird.
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