Berlin im Expressionismus

 

Georg Simmel: ,Die Großstädte und das Geistesleben’

Der Soziologe Georg Simmel beschreibt in seinem Essay ,Die Großstädte und das Geistesleben’ von 1903 die Auswirkungen der modernen Großstadt auf die in ihr lebenden Individuen. Seine Einschätzung ist dabei ambivalent, so wie auch die Expressionisten sehr widersprüchliche Gefühle zu der Metropole zeigen, in der sie leben. Lothar Müller fasst den Zusammenhang zwischen Georg Simmels Studien und der Literatur, die sich mit eben dieser Urbanisierung beschäftigt, in einer passenden Metapher zusammen:

Zum literarischen Portrait des Großstädters liefern Simmels Analysen [...] das soziologische Röntgenbild[52].

Dabei zeigt der Frühexpressionismus

eine Sensibilität für die von Georg Simmel identifizierten subtilen Auswirkungen der Industriegesellschaft auf das ganze moderne Leben[53].

Auf diese soll nun im Folgenden näher eingegangen werden.

Georg Simmel spricht vom „Typus Großstädter“. Dessen psychologische Grundlage beruht auf der „Steigerung des Geisteslebens“, ausgelöst durch die permanente Reizüberflutung in der Großstadt[54]. Von dieser Fülle sinnlicher Reize ist in der expressionistischen Lyrik, insbesonders in der frühen Phase, häufig die Rede. Vor allem die Berlin-Gedichte, die im Kapitel ,Die Straße’ zusammengefaßt sind, thematisieren Verkehr und Geschwindigkeit der Stadt, die wachsende Industrie mit ihren Auswirkungen auf das Leben der Menschen, den Konsum und die Menschenmassen.

G. Grosz: Strassenbild 1917Die Steigerung des Geisteslebens bewirkt nun, dass der „Choc zur Grundform der unmittelbar-sinnlichen Erfahrung der Großstadt“[55] wird. Die für die Individuen lebensnotwendige Antwort darauf ist die Ausbildung des Intellektes als „Reizschutz und Distanzorgan“[56]. Nicht mit dem Gemüt, mit dem der kleinstädtische Charakter Reize aufnimmt, sondern mit dem Verstand wird auf die Vergewaltigung der Großstadt reagiert[57].

Mit dem Verstand ist es nach Simmel wie mit dem Geld: im Umgang mit Menschen und Dingen herrscht unbarmherzige Sachlichkeit. Dieser „Geist der reinen Sachlichkeit“[58] sei aber wiederum eine Folge der Entfaltung der Geldwirtschaft, so wie sie in der Großstadt ausgeprägt ist[59]. Eines der typischsten Merkmale des Großstädters bezeichnet Simmel deshalb als „Blasiertheit“[60]. Damit ist die „Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge“ gemeint[61], weil sie auf der Unfähigkeit beruht, auf neue Reize angemessen zu reagieren.

Diese Definition trifft ebenfalls auf ein in der Lyrik des Expressionismus entstandenes Stilmerkmal zu: den Reihungsstil[62]. Er erfaßt den von Simmel als Blasiertheit charakterisierten Geisteszustand von Subjekten in der Großstadt literarisch, indem unzusammenhängende Handlungen und Gegebenheiten und ebenso wichtige wie unwichtige Vorgänge aneinandergereiht werden. Die Gleichzeitigkeit verschiedenster Sinneseindrücke, denen die Großstädter permanent ausgesetzt sind, findet hier ihren Ausdruck. Die lyrische Darstellung dieser Abstumpfung der Großstädter ist dabei aber bewusst und reflektiv eingesetzt und zeugt von einer kritischen Auseinandersetzung mit dem, was von Georg Simmel über das Leben in der modernen Metropole thematisiert wurde.

Die so bezeichnete Blasiertheit sei, so Simmel, eine Folge der genannten Nervensteigerung. Doch geht er noch weiter und bezeichnet eben diesen Zustand als reine Selbsterhaltung und notwendige Anpassung des Individuums in der Großstadt[63]. Was die sozialen Beziehungen betrifft, so schützt sich der Großstädter gegen unvermeidbar auftretende Gleichgültigkeit im Umgang mit den unzähligen Menschen, auf die er täglich trifft, mit Antipathie. Sie bewirke, so Georg Simmel, nötige Distanz und Abwendung, ohne die das Großstadtleben undenkbar sei. Das wiederum gewährt „dem Individuum eine Art und ein Maß persönlicher Freiheit“ wie sonst nirgendwo möglich[64]. Es ist diese Freiheit, die der Großstädter im Gegensatz zum Kleinstädter besitzt und die er zum Teil teuer mit Einsamkeit und Verlassenheit bezahlen muss[65].

Berlin bot aber auch Chancen zur Gestaltung des eigenen Lebens, so war die expressionistische Autorengeneration, die zum Großteil aus der konservativen Bürgerschicht stammte, und aus der Provinz nach Berlin kam, um im großstädtischen Leben Selbstverwirklichung und Befreiung von gesellschaftlich-moralischen Zwängen zu suchen. Die Anonymität der Großstadt wurde als „positive Voraussetzung für größere individuelle Freiheit“ gesehen[66].

Dieser von der Großstadt erzeugt Drang zur individuellen Selbstverwirklichung[67] entspringt dem Übergewicht von dem,

was man den objektiven Geiste nennen kann, über den subjektiven, d.h., in der Sprache wie im Recht, in der Produktionstechnik wie in der Kunst, in der Wissenschaft wie in den Gegenständen der häuslichen Umgebung ist eine Summe von Geist verkörpert, deren täglichem Wachsen die geistige Entwicklung der Subjekte nur sehr unvollständig und in immer weiterem Abstand folgt[68].

Denn das Individuum ist der Übermacht des Objektiven immer weniger gewachsen: Arbeitsteilung, Spezialisierung und Differenzierung lassen die Persönlichkeit im großstädtischen Raum verkümmern[69]. Simmels Grundmotiv - der Widerstand des Subjekts, in gesellschaftlich technisierten Prozessen unwichtig zu sein und aufgebraucht zu werden - findet sich als ein wichtiges Motiv im Expressionismus wieder. In den Gedichten sind die Menschen verdinglicht und sehen sich einer derart personifizierten und übermächtigen Großstadtwelt gegenüber[70].

Die Großstadt ist für Georg Simmel ein Ort, an dem die drohende Vorherrschaft des Objektiven gleichzeitig eine Kultivierung des Individuellen hervorbringt. Die Ambivalenz des modernen Großstadtlebens, das machen auch die Berlin-Gedichte deutlich, liegt einerseits in der großen Fülle von Anregungen, Interessen, Ablenkungen und Unterhaltung, die die Stadt zu bieten hat, und andererseits an der Unpersönlichkeit der Inhalte und Darbietungen, aus denen sich das Leben hier zusammensetzt, und destruktiv auf das Individuum einwirkt[71]. Das hat einen extremen und übertriebenen Individualismus zur Folge, den man auch teilweise in der Heterogenität der expressionistischen Dichterbewegung wiederfindet[72].

Georg Simmel definiert die Stadt aber nicht nur als einen konkreten Raum, sondern betont auch ihre abstrakte Funktion:

Das bedeutsamste Wesen der Großstadt liegt in dieser funktionellen Größe jenseits ihrer physischen Grenzen: [...] so besteht auch eine Stadt erst aus der Gesamtheit der über ihre Unmittelbarkeit hinausreichenden Wirkungen. Dies ist erst ihr wirklicher Umfang, in dem sich ihr Sein ausspricht[73].

Auch die Berlin-Gedichte der Expressionisten gehen über die reine Wahrnehmung physischer Merkmale, wie Verkehr, Straßen und Häuser, hinaus. Sie verweisen auf die dahinter liegende, als Bedrohung empfundene, in der Verdinglichung des Menschen und seiner Ich-Zerrissenheit, in Metaphern des Todes, des Weltendes und des Aufrufs zum Ausdruck kommende Realität der Großstadt. Die Gesamtheit aller Wirkungen der Stadt erfassen die Dichter zwar nicht, aber sie erweitern damit die literarische Wahrnehmung der Großstadt in der Deutschen Literatur.

    < zum Textanfang