Berlin im Expressionismus

 

Die Möglichkeiten der Dichter in Berlin

Berlin bot den Künstlern neben vielen persönlichen Freiheiten auch eine Reihe von Möglichkeiten. Erst recht, seit dem Berlin kulturell immer mehr an Bedeutung gewann.

Programm des 'Neopathetischen Clubs'In literarischen Zirkeln, Clubs, Kabaretts, Kaffeehäusern und Bohèmekneipen trafen sich die Künstler und Dichter. Hier war man auf dem aktuellen Stand, was literarische Neuerscheinungen und auch neue Talente betraf.

Dem Nachwuchs bot sich hier die

verlockende Chance, mit den neuesten, als befreiend, ja als progressiv aufgefaßten künstlerischen Strömungen, vor allem der des Expressionismus, in Kontakt zu kommen, die seit 1909/10 in vielen Kunstzeitschriften eine führende Rolle zu spielen begann[74].

In Berlin bot unter anderem der ,Neue Club’[75] mit seinen Veranstaltungsabenden, die man ,Neopathetisches Cabaret’[76] nannte, eine „subkulturelle Gegenöffentlichkeit“[77]. Hier wurden Vorträge gehalten, Gedichte „nicht rezitiert, sondern hinausgeschrieen“[78], Erfahrungen ausgetauscht und künstlerische Diskurse besprochen. Zu den bedeutendsten Veranstaltungen der Expressionisten in Berlin gehörten die Aktivitäten des ,Sturm’-Kreises um Herwarth Walden[79]. Neben der Herausgabe der Zeitschrift ,Der Sturm’ (s.u.) führte Walden in Berlin eine Galerie, die diesen Namen trug (1912-1929). Dort zeigten Futuristen und Kubisten ihre Werke, von denen sich die Expressionisten mitunter stark beeinflussen ließen. Ab 1915 gab es außerdem die ,Sturm-Bühne’ mit wöchentlich stattfindenden Veranstaltungen, auf denen Werke junger Autoren vorgestellt wurden. Auch die Künstler um Franz Pfemferts Zeitung ,Die Aktion’ (s.u.) hielten Vorträge, Lesungen und veranstalteten so genannte Revolutionsbälle.

Als spezifische Ausdrucksform der Expressionisten[80] gehörte Lyrik in Berlin zur Tagesattraktion.

Das Gedicht war also Ausdruck großstädtisch-hektischen Lebensgefühls einer Literatengeneration, die ihre stimulierenden Sensationen aus den in den Kaffeehäusern ausliegenden Zeitschriften bezog[81].

Anzeige aus 'Die Aktion' 1912In Berlin waren die Publikationsbedingungen für junge Künstler so günstig wie nie zuvor. Es entstand eine erstaunliche Anzahl neu gegründeter Zeitschriften, die sich auf eben diese neue Literaturkunst spezialisierte. Damit einher ging ein Aufblühen des Verlegertums, das die Publikationsmöglichkeiten der Schriftsteller erleichterte und die Zahl der Veröffentlichungen erhöhte.

Mit der Entstehung der Massenpresse bot sich den Autoren eine nie zuvor dagewesene Möglichkeit, sich einem breiteren Publikum zu öffnen. Damit verschafften sich die Dichter Gehör, gelangten schneller zu Popularität und erhielten zudem die Chance, mit ihren Werken Geld zu verdienen.

Die Einmaligkeit der expressionistischen Bewegung beruht auch auf der Tatsache, daß es in der deutschen Literatur nie eine Zeit gegeben hat, in der auch nur annähernd so viele neue Zeitschriften, Manifeste, Anthologien und z.T. sehr schmale Bücher und Hefte in eigens gegründeten Kleinverlagen herauskamen[82].

Zwei der bedeutendsten expressionistischen Zeitschriften erschienen in Berlin:

Das ist einmal ,Der Sturm’, der von 1910 bis 1932 als linksbürgerliche ,Wochenschrift für die Kultur und die Künste’ im Selbstverlag in Berlin publiziert wurde. Dessen Herausgeber war Herwarth Walden, „einer der wichtigsten Anreger, Organisator und Vermittler der neuen Kunstrichtungen“[83]. Waldens Anliegen war die Sammlung und Förderung des Expressionismus auf internationaler Ebene sowie die Verbindung von Bildender Kunst und Literatur[84]. Im Gegensatz zur Zeitschrift ,Die Aktion’ (s.u.) trennte Walden Kunst und Politik. Deshalb überwiegt das ästhetische Konzept „als Revolte gegen akademische Traditionen“[85]. In ,Der Sturm’ vereinte Walden Dichter mit unterschiedlichster Weltsicht darunter Gottfried Benn, Iwan Goll, Jakob van Hoddis, Alfred Lichtenstein und Paul Zech. Neben der Zeitschrift veröffentlichte der ,Sturm’-Verlag auch Streitschriften, Manifeste, Jahrbücher und Kunstbände. ,Der Sturm’ erreichte 1912 eine Auflagenstärke von bis zu 10.000 Exemplaren.

Die zweite bedeutende Zeitschrift des Berliner Expressionismus war ,Die Aktion’ und wurde von 1911 bis 1932 von Franz Pfemfert als ,Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst’ herausgegeben. Der Untertitel weist bereits auf den Unterschied zur Zeitschrift ,Der Sturm’ hin: Pfemferts Gewicht lag mehr auf moralisch-politischen Inhalten. Er „verstand sein Blatt als Forum einer parteilich nicht gebundenen radikalen Linken“[86] und als

Organ der linksbürgerlichen Opposition gegen die Wilhelminische Wirtschafts-, Kolonial- und Wehrpolitik[87].

Auch Pfemfert gab expressionistische Werke als Sonderhefte, Anthologien und Buch-Reihen heraus. ,Die Aktion’ erreichte 1913 ihre größte Auflagenstärke von 5.000 bis 8.000 gedruckten Heften.

Zum Kreis der Zeitschrift ,Die Aktion’ gehörten unter anderem Georg Heym, Jakob van Hoddis, René Schickele, Walter Hasenclever, Johannes R. Becher, Iwan Goll, Alfred Lichtenstein, Alfred Wolfenstein und Max Hermann-Neiße.

Obwohl beide Verleger oftmals die gleichen Autoren druckten, deutet bereits das unterschiedliche Anliegen der Zeitschriften darauf hin, dass die gesamte expressionistische Bewegung in Berlin sehr komplex war[88]. Spaltungen und Neugründungen, wie sie schon beim ,Neopathetischen Cabaret’ erfolgten[89], waren an der Tagesordnung. ,Der Sturm’ als ästhetisch künstlerische Zeitschrift und ,Die Aktion’ als politisch aktivistisches Blatt stehen als „zwei im Laufe der Jahre immer mehr an Profil gewinnende Lager“[90] nicht nur publizistisch, sondern auch programmatisch für die Entwicklung der ganzen expressionistischen Bewegung.

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