Berlin im Expressionismus

 

,Die Jüngst-Berliner’

1910 war Berlin das Zentrum der expressionistischen Literaturbewegung: Alle wichtigen Lyriker lebten hier ständig oder zumindest zeitweilig, was auch die Dominanz der Großstadtthematik in den expressionistischen Gedichten zum Teil erklärt. Eberhard Roters bringt die Magnetwirkung Berlins auf eine knappe Formel: „An Berlin kam kein Künstler vorbei, der Beachtung und Anregung suchte“[26].

Die Autoren um 1910 waren in der Großstadt zu Hause. In ihren Werken erschien diese nun nicht mehr nur als Kulisse, die Großstadt selbst wurde zum Erfahrungsraum[27]. ,Die Jüngst-Berliner’ heißt ein 1911 von Kurt Hiller veröffentlichter Aufsatz. Hiller, der als Mitbegründer des ,Neuen Club’[28] zu den Frühexpressionisten gehörte, nennt darin die, an die sich sein Text richtet:

jene[r] Clique von Dichtern, Glossaren und sonstwie Logophilischen, die sich, in Berlin, gegenwärtig für die neue             Generation hält[29].

Bereits zu diesem Zeitpunkt bezeichnete Hiller sich und seine Weggefährten ,Expressionisten’[30]. Berlin spielte also eine zentrale Rolle in dem Schaffen dieser Dichter. Hiller schrieb:

So ist in der Dichtung unser bewußtes Ziel: die Formung der Erlebnisse des intellektuellen Städters. Wir behaupten (beispielsweise), daß der Potsdamerplatz uns schlechthin mit gleich starker Innigkeit zu erfüllen vermag, wie das Dörfli im Tal des Herrn Hesse[31].

Die Bejahung des Großstadtlebens wird hier programmatisch, der ,Typus Städter’ wurde für Hiller zum entwickeltesten Menschen überhaupt[32].

Kreuzung Friedrichstrasse/Unter den LindenDie expressionistischen Dichter waren größtenteils noch sehr jung, Peter Christian Giese spricht von der „Generation der 20-jährigen“[33], die es in die Lebenszentren der Gesellschaft zog. Das waren die Großstädte, das war neben Leipzig, München, Wien und Prag vor allem Berlin[34].

Die Autoren fühlten sich als „Repräsentanten von Jugendlichkeit und geistig-kultureller Erneuerung“[35]. Giese sieht in ihrem Bemühen, dieses Gefühl zum Teil programmatisch zum Ausdruck zu bringen, Parallelen „zu dem zeitgleichen Phänomen der Deutschen Jugendbewegung“ wie dem ,Wandervogel’ oder den ,Pfadfindern’[36]. Es handelte sich bei Letzteren vorrangig um eine „Reaktion auf die Natur-Ferne der modernen Großstadt“[37]. Deshalb fand man sich am Wochenende zusammen, um gemeinsam,

mit der Klampfe unter dem Arm und die im Zupfgeigenhansel gesammelten Lieder singend, die deutschen Lande zu durchstreichen[38].

Mit der Art und Weise, ihrem Großstadtüberdruss Ausdruck zu verleihen, waren ‚Wandervögel’ und ‚Pfadfinder’ in Deutschland wesentlich populärer als die expressionistischen Dichter, vor allem deshalb, weil sie die bestehende Ordnung des Bürgertums mit ihren vergleichsweise harmlosen Geschichten nicht bedrohten. Ihre schriftlichen Äußerungen sind literarisch als reiner Kitsch „junger Taugenichtse“ einzuordnen[39].

Die Expressionisten waren von der Großstadt überwältigt, berauscht und zugleich verunsichert[40]. Der Widerspruch zwischen sozialen Mißständen und wissenschaftlich technischem Fortschritt nimmt in der Großstadt sichtbare, erlebnishafte Gestalt an:

Großstadt, das ist Armut und Elend neben Luxus und verlockender Fülle der Waren, faszinierende Lebendigkeit und Vielfalt der Möglichkeiten, aber auch Bedrohung des einzelnen, Anonymität bis zum Verlust des Ich[41].

In dieser Ambivalenz mag auch die Faszination bestehen, die Berlin auf die Künstler ausübte und die sich in den verschiedenen Themen der hier aufgeführten Berlin-Gedichte widerspiegelt.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Expressionismus auf enge Kreise in nur wenigen Deutschen Großstädten beschränkt war[42] und es sich auch in Berlin um keine Massenbewegung gehandelt hat. Hier führten die Künstler ein Bohèmedasein. Nach der Jahrhundertwende fand die Bohème besonders in Berlin eine rasche Ausbreitung durch den Zuzug der mittleren und oberen Bürgerschicht aus allen Teilen Deutschlands[43]. Diese Generation von Bohèmians ging viel aufsässiger mit ihrer Umwelt um als ihre Vorgänger[44]. Ihr Werk ist künstlerischer Ausdruck und Bewältigungsversuch einer Gruppe Intellektueller, die die Veränderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit als neue Bewusstseinslage in der Großstadt erlebten.

Hier zählte man sich gern zu den Außenseitern, wusste sich aber gleichzeitig einer künstlerischen Avantgarde zugehörig. So gut wie alle Dichter stammten aus gutbürgerlichem Hause mit humanistischer Bildung, doch gegen eben diese Schicht der Gesellschaft richtete sich ihre Kritik. Das war zu einer Zeit, in der Deutschland politisch und ökonomisch relativ stabil war. Genau hierin liegt die Provokation des Expressionismus:

Der Expressionismus bezieht seine Energien aus der staatlichen und gesellschaftlichen Festigkeit der wilhelminischen Ordnung und wendet sie lustvoll gegen sie[45].

Die Expressionisten sahen die Brüchigkeit der Wilhelminischen Gesellschaft[46], ihre Ursachen aber erkannten sie nicht. Das hatte zur Folge, dass sie ihre Kritik vor allem am Kunstverständnis fest machten[47]. Ihre Rebellion gegen den Wilhelminismus war kein politischer Widerstand, sondern eher individuelle Verweigerung. Ihr Bohèmedasein war „anarchistisch individualistisch“ und nicht politisch motiviert[48].

Bemerkenswert ist, dass man den Dichtern äußerlich diese Auflehnung nicht ansah[49], was die existierenden Fotos belegen, die diese jungen Männer in ihrer „bürgerlichen Außenansicht“ zeigen[50]. Vergleicht man diese Fotos mit den Portraits, die Künstler wie Oskar Kokoschka, Ludwig Meidner oder Egon Schiele von den Dichtern schufen, so wird ihr

Zwiespalt zwischen der wunschhaften Entgrenzung ins Anarchische und dem tatsächlichen Verhaftetbleiben in ungeliebter Bürgerlichkeit[51]

deutlich.

Fotographie J.v. Hoddis          Portrait J. v. Hoddis

 
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