Berlin im Expressionismus

 

Die Futuristen in Berlin

In Italien entstand Anfang des 20sten Jahrhunderts eine revolutionierende Bewegung in der Literatur und der Bildenden Kunst, die sich Futurismus nannte. Ihr Erfinder und Anführer war Emilio Filippo Tommaso Marinetti. In provokanten Thesen forderte er den radikalen Bruch mit allem Traditionellen, mit den Werten der Vergangenheit in allen Bereichen. In den veröffentlichten Manifesten[109] riefen die Vertreter des Futurismus zur rückhaltlosen Hinwendung zur Zukunft auf. Gemeint war damit das technische Zeitalter. Sie wandten sich gegen den Symbolismus und Ästhetizismus der Jahrhundertwende und ernannten „Geschwindigkeit, Bewegung, Dynamik und Simultanität“[110] zum Puls der neuen Epoche. Marinetti und seine Anhänger bejubelten das heraufkommende Maschinenzeitalter, und begeisterten sich für neueste technische Errungenschaften wie Flugzeuge und Automobile. Herkömmliche Wahrnehmungs- und Darstellungsstrukturen wurden als unzureichend angesehen und verworfen. U. Boccioni: Elastizität 1911

Der Futurismus war Teil einer Aufbruchbewegung, die vor dem Ersten Weltkrieg unter Künstlern und Literaten in vielen europäischen Ländern um sich griff. Mit seiner provokativen antibürgerlichen Haltung kann er historisch als Ausdruck eines „radikalen Modernisierungsprozesses einer immer noch archaisch strukturierten Gesellschaft“ gesehen werden[111]. Auch die Expressionisten in Deutschland waren dem Thema Technik gegenüber zunächst positiv eingestellt, und eine literarische Befreiung von alten Sprach- und Stiltraditionen entsprach auch ihren Vorstellungen von einer Erneuerung des literarischen Ausdrucks. Diese Impulse wurden nicht erst von der Futuristischen Bewegung ausgelöst, aber die expressionistischen Dichter wurden durchaus von den spektakulären Auftritten und Veröffentlichungen der Futuristen ermutigt[112], denn seit 1910 war der Futurismus im Kulturleben Deutschlands allgegenwärtig[113].

Marinettis Berlinbesuch im April 1912 wurde zu einem die ganze Stadt erfassenden „Kunst-Karneval“ und riß die jungen Intellektuellen mit seiner überschäumenden Lebensbejahung in einen Strudel der Begeisterung[114]. Im selben Jahr eröffnete die Galerie ,Der Sturm’ mit einer Futuristenausstellung, während in der gleichnamigen Zeitschrift bereits futuristische Thesen und Programme zu lesen waren. Ein Jahr später, bei einem erneuten Besuch Marinettis war die Begeisterung der Literaten und Künstler schon sehr viel verhaltener, und kritische Stimmen wurden lauter[115], denn die Radikalität, mit der die Futuristen einen Bruch mit dem Alten herbeibeschwörten, ließ sie auch vor Gewaltbekenntnissen nicht zurückschrecken. Mit der Ausstellung futuristischer Maler in der ‚Sturm’-Galerie begann in den Zeitschriften ‚Der Sturm’, ‚Die Aktion’, ‚Die neue Kunst’ und ‚Die Revolution’ eine deutschsprachige Debatte um die italienische Bewegung, die bis 1915 anhielt, und den Manifesten Marinettis zunehmend kritisch gegenüberstand.

Bedeutende Übereinstimmung beider Strömungen ist ihr Ausgangspunkt einer veränderten Wirklichkeit des Großstadterlebens. Gemeinsamkeit herrscht auch in der Gestaltung gleichzeitiger heterogener Vorgänge, wie zum Beispiel der Reihungsstil, um die neue Raum- und Zeiterfahrung, vor allem aber das beschleunigte Lebenstempo in der Großstadt auszudrücken. Doch während bei den Italienern die moderne Zivilisation verherrlicht wird, sind die Gefühle der Deutschen zu ihr eher ambivalent. Unter ihnen festigte sich immer mehr der Widerstand, als Subjekte in einer modernen technischen Gesellschaft nivelliert und verbraucht zu werden. Die Expressionisten in Deutschland distanzierten sich nach ihrem kurzen „emphatischen Bekenntnis zum Futurismus“[116] von Marinettis Positionen, so dass von einer Übernahme der futuristischen Theorien keine Rede sein kann. Rückblickend lässt sich die Beziehung beider Bewegungen als „kurzfristiges, aber produktives Zwischenspiel“[117] bestimmen.

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