Einleitung

 

Zu dieser Arbeit[1]

Es gibt viele Anthologien mit Gedichten über Berlin. Ebenso gibt es etliche Anthologien expressionistischer Art. Meine Recherchen über expressionistische Berlin-Gedichte ergaben jedoch, dass bisher noch niemand die beiden Themen zusammengebracht hat. Dabei liegen sie doch sehr nahe: Das Zentrum der expressionistischen Bewegung in Deutschland war Berlin, und die Großstadt ist das beherrschende Thema in der expressionistischen Lyrik.

Die in dieser Anthologie gesammelten Gedichte thematisieren auf unterschiedliche Weise die Stadt Berlin zur Zeit des Expressionismus: Einige haben einen direkten Bezug zum Ort, indem Berlin im Text oder im Titel genannt wird. Andere weisen nur indirekt auf die Großstadt hin, indem sie sich mit den Themen und Motiven des urbanen Raums auseinandersetzen. Wieder andere lassen keine oder nur eine unterschwellige Verbindung zu der Stadt zu. Sie haben trotzdem alle eines gemeinsam: Sie zeichnen ein expressionistisches Bild der Stadt aus den Jahren 1909-1921. Sie stammen allesamt von Dichtern, die hier lebten und arbeiteten und in der Lyrik ihre Emotionen und ihre Einstellungen zu Berlin zum Ausdruck bringen.

Wie dieses Bild genau aussieht und was die Beziehung der Dichter zur Metropole eigentlich ausmacht, will diese Arbeit aufzeigen.

Der Abschnitt 'Berlin im Expressionismus' stellt den historischen und kulturellen Kontext der Bearbeitung dar.

Der Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt dabei auf der Analyse der thematischen Gliederung der Gedichte ('Analyse').

Die Themenkomplexe, die grundsätzlich für die Auseinandersetzung von Expressionismus und Großstadt stehen (das sind die Abschnitte 'Auf der Straße', 'In der Nacht', 'Im Café', 'Frauen', 'Die Häuser' und 'Weltende'), stellen die Konfrontation des Individuums mit der Masse, dem Verkehr, dem Tempo und der Technik in den Vordergrund. Hinzu kommt das ambivalente Verhältnis des Subjektes zu der Stadt, die ihm einerseits Freiheit und ein riesiges Angebot an Vergnügen bietet und andererseits das Ich bis zum völligen Verlust der Persönlichkeit bedroht.

Diese Anthologie umfaßt aber auch Gedichte, deren thematische Festlegung zu ungewöhnlichen Schwerpunkten führt, und nicht in das von einem Großteil der Literaturforschung analysierte, expressionistische Bild der Großstadt passt:

'Im Sommer', 'Vorstadt' und 'Aufruf' sind solche auf den ersten Blick im Zusammenhang mit der Stadt untypische Schwerpunkte, da sie einen harmonischen Eindruck Berlins im Sommer hinterlassen, nicht von der Großstadt selbst, sondern von ihren Vororten handeln, und bei letzterem der Zusammenhang von den 'Aufruf'-Gedichten und der Großstadt nicht offensichtlich ist.

Erstaunlich erschien mir, zu wieviel Kritik und Selbstreflektion das Thema Berlin die Dichter inspirierte. Das zeigen die Kapitel 'Am Fenster' und 'Dichter über ihresgleichen’.

Die eindeutigsten Bekenntnisse ihrer Gefühle zu Berlin hinterlassen die Lyriker in dem Kapitel 'Abschied'.

Das Kapitel 'Zur Konstruktion der Großstadt im expressionistischen Gedicht' geht auf die Form und den Stil expressionistischer Lyrik ein, wobei deutlich wird, dass bereits in den ästhetischen Mitteln der Gedichte ein eindeutiger Bezug zur Großstadt besteht.

Von expressionistischen Gedichte wird behauptet, ihr Thema sei entweder Aufschrei, Verzweiflung und Elend oder der utopische Gedanke einer sich neu formierenden, brüderlichen Gesellschaft. Diese, vor allem von der älteren Literaturforschung reduzierte Sicht des Expressionismus, bezieht sich hauptsächlich auf die Lyrik des späteren, sogenannten messianischen Expressionismus. Jüngere Arbeiten, zum Beispiel der Aufsatz von Jost Hermand: 'Das Bild der ‚großen Stadt’ im Expressionismus'[2] oder die kommentierte Textsammlung ‚Lyrik des Expressionismus’[3] von Silvio Vietta haben das Verständnis der expressionistischen Bewegung um die Betonung der frühen Lyrik, die sich vor allem mit dem Thema Großstadt befaßt, erweitert. Auch die hier aufgeführten Berlin-Gedichte stellen die pessimistische Einstellung der Literaten zur modernen Großstadt und damit die negativen Erfahrungen der Stadt in den Vordergrund. Dennoch ist auch immer wieder die Faszination der Künstler zu Berlin zu spüren.

Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse und ein Ausblick folgen in der Schlussbemerkung.

Die Anzahl der Gedichte und Autoren, die in dieser Anthologie zusammengefaßt wurden, machte mir im Rahmen dieser Arbeit leider kaum Ausführungen oder Erläuterungen zu den einzelnen Lyrikern möglich. Der Schwerpunkt der Analyse bezieht sich auf die Berlin-Themen, so dass auf biographische Einflüsse und Eigenarten der Dichter bezüglich ihrer Lyrik gar nicht, beziehungsweise nur sehr gering eingegangen werden konnte.