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Einleitung
Der Potsdamer Platz als Sinnbild
des modernen Berlin – auf diese und ähnliche Aussagen bin ich bei
meiner Analyse von Feuilletontexten zum Potsdamer Platz immer wieder gestoßen.
In engem Zusammenhang mit dem Modernebegriff stehen Technik und Verkehr,
Wandel und Visionen.
Ich beginne mit dem geschichtlichen
Wandel des Potsdamer Platzes, der den für die Interpretation der Feuilletons
nötigen Hintergrund bildet und verdeutlicht, daß schon seine
Geschichte seit der Jahrhundertwende Parallelen zur Geschichte Berlins
im 20.Jahrhundert aufweist.
Im Mittelteil der Arbeit stehen
die Topoi Technik und Verkehr. Wandel und Visionen werden über den
Platz hinaus allgemein auf Berlin als moderne Stadt bezogen. Gegenstand
der Untersuchung ist also der Platz selbst und seine Bedeutung als Metapher
für das größere Ganze von Stadt und Land. Die hieraus resultierenden
Rückschlüsse wurden in Kapitel Vier diskutiert.
Das Fazit bietet neben der
Schlußbetrachtung einen Ausblick.
Die Arbeit beschränkt
sich auf Feuilletontexte der 20er, 30er und 90er Jahre. Die Quellenarmut
insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg kann darin begründet sein,
daß der Potsdamer Platz als Niemandsland im Grenzgebiet schwerlich
Feuilletonschreiber zu Berichten inspiriert haben mag.
1. Die Geschichte
des Potsdamer Platzes: Eine Geschichte des schnellen Auf- und Niedergangs
Aber nun kommen wir auf den Potsdamer
Platz. Von dem ist vor allem zu sagen, daß er kein Platz ist, sondern
das, was man in Paris einen 'Carrefour' nennt, eine Wegkreuzung, ein Straßenkreuz,
wir haben kein rechtes Wort dafür. Daß hier einmal ein Stadttor
und Berlin zu Ende war und die Landstraßen abzweigten, man müßte
schon einen topografisch sehr geschulten Blick haben, um das an der Form
des Straßenkreuzes zu erkennen. (Hessel, 1984, S. 59)
So beschreibt Franz Hessel 1929
als Ergebnis einer Berlinrundfahrt den Potsdamer Platz. Damals gehörte
er zu den verkehrsreichsten und modernsten Plätzen Europas und bot
Anlaß für alle möglichen Großstadtphantasien.
Von Platz im herkömmlichen
Sinne kann wie Hessel zeigt, auch nicht gesprochen werden. Der Platz war
weder Markt- noch Versammlungsplatz, weder Grünanlage noch Kommunikationstreffpunkt
(Bienert, 1992, S.60). Der Potsdamer Platz zeugt vielmehr davon, daß
der Platz an sich im 20. Jahrhundert seine ursprünglichen Funktionen
verliert und zum Verkehrsknotenpunkt umfunktioniert wird.
So meint auch Arthur Holitscher
in der Vossischen Zeitung am 4.9.1920:
Der Potsdamer Platz ist nach
seinem heutigen Aussehen zu urteilen gar kein Platz mehr, sondern eine
Schlucht, ein Canyon, ein Felsenbett, das sich der Großstadtverkehr
aus den Häusermassen herausgekerbt hat. (zit. n. Mattenklott, 1987,
S.115)
Doch noch im 19. Jahrhundert war
der Potsdamer Platz nur eine Freifläche vor dem Potsdamer Tor. Hier
sollte ursprünglich eine gotische Kathedrale zum Gedenken an die Freiheitskriege
in den Jahren 1813/1815 von Karl Friedrich von Schinkel erbaut werden (ebd.).
Mit Inbetriebnahme des Potsdamer Bahnhofs beginnt nach 1838 die Bebauung
rund um den Platz, so daß um 1867 die Umgebung schon dicht besiedelt
ist, während der Platz selbst noch öde und leer steht. Adolf
Heilborn, ein Zeitzeuge, erinnert sich an das Aussehen des Platzes im letzten
Jahrhundert Ende der 70er:
(...) einfach ein unregelmäßiger,
häßlicher, leerer Raum, gleichsam ein gähnendes Loch in
der Straßenkreuzung, umrahmt von ebenso erbärmlichen, kleinen
Häusern. Mit den beiden noch von Schinkel herrührenden, tempelartigen
Torbogen schloß die Leipziger Straße ab, und dann kam eben
dieses Nichts. (zit. n.: ebd.).
Um die Jahrhundertwende wird der
Potsdamer Platz städtischer. 1871 löst die schnellere Ringbahn
den bisherigen Schienen-Güterverkehr ab (ebd.), und 1882 stehen auf
dem Platz die ersten elektrischen Bogenlampen. Von nun an geht die technische
Verkehrsentwicklung auf dem Potsdamer Platz schnell voran. 1902 wird die
erste elektrische Hoch- und Untergrundbahn in Betrieb genommen, und ab
1908 kann man den Potsdamer Platz bereits mit der U-Bahn anfahren (ebd.,
S.117). Zu dieser Zeit herrscht auch auf den Straßen des Platzes
bereits reger Verkehr: elektrische Straßenbahnen, Busse, Autos und
dazwischen noch Pferdewagen transportieren täglich viele Menschen
zu diesem Platz, der für Tausende unter anderem als Umsteigeplatz
von Bedeutung ist.
Bereits in den 20er Jahren
wird viel umgebaut und der Verkehr neu geregelt, um das mittlerweile dort
herrschende Verkehrschaos in den Griff zu bekommen. 1924 wird auf dem Potsdamer
Platz ein Verkehrsturm aufgestellt, Europas erste Ampel, er soll der optischen
Verkehrsregelung dienen. Das alles zeugt vom Potsdamer Platz als einem
bedeutenden Verkehrsknotenpunkt.
Der Platz hatte seinen ersten
Aufstieg geschafft, denn er war vom "Nichts" zum "verkehrsreichsten Platz
Europas geworden" (Noseleit in: FAZ, 4.11.1996), zu einem Ort, dessen Bedeutung
nicht nur als berühmter Verkehrsknotenpunkt besteht, sondern ebenso
als Vergnügungs- und Einkaufszentrum und als bevorzugter Wohnort eine
bedeutende Rolle einnnahm (Sontheimer in: DIE ZEIT, 3.8.1990).
Im Dritten Reich befanden sich
die Kommandozentralen der Nationalsozialisten rund um den Platz (ebd.).
Der Zweiten Weltkrieg legte alles in Schutt und Asche. Vom einstigen Ruhm
und Glanz war nichts mehrgeblieben. Über diesen Zeitraum schreibt
Michael Sontheimer:
"Die Gewalt, die von diesem
Grund ausging, ist schließlich auf ihn selbst zurückgeschlagen",
und es gäbe "keinen Ort in Deutschland, auf dem so bleiern nationale
Symbolik lastet wie auf der Brache rund um den Potsdamer Platz" (ebd.).
Der Potsdamer Platz galt nun als
Sinnbild für den permanenten Abriß (Mattenklott, 1987, S.136).
Nach dem Zweiten Weltkrieg völlig zerstört, doch noch immer im
Zentrum Berlins als Schnittpunkt dreier Besatzungszonen, konnte er als
kleiner Grenzübergang wieder geringe Bedeutung erlangen. In gewisser
Weise fand nun wieder eine Art Verkehr statt: ein Austausch von Menschen
von Ost nach West und umgekehrt.
Doch noch einmal kam es zu
Gewalt und Kämpfen, als am 17. Juni 1953 sowjetische Panzer Ost- und
Westberliner Demonstranten auf dem Potsdamer Platz vertrieben, dann wurde
es ruhig auf dem Platz.
Der Mauerbau 1961 machte den
Potsdamer Platz zum Grenz- und Sperrgebiet zwischen Ost- und Westmächten.
Mit dem Abriß aller noch übriggebliebenen Anlagen, dem Warenhaus
Wertheim, dem Columbushaus, dem "Haus Vaterland", und der Beseitigung aller
Bahnhofs- und Gleisanlagen 1973 (Sontheimer in: DIE ZEIT, 3.8.1990)war
das endgültige Aus des Potsdamer Platzes besiegelt.
Damit wurden Zeugnisse seiner
Vergangenheit ausgelöscht und sind ohne stadthistorische Kenntnisse
nicht rekonstruierbar. Allein die alte Straßenführung ist noch
zu erkennen. Mit dem Bau der Staatsbibliothek ist auch die Alte Potsdamer
Straße zur Sackgasse geworden (ebd.).
Nicht mal mehr ein "Wegekreuz",
ein "Carrefour" (Hessel, 1984, S.59 ), ist übriggeblieben.
Entstanden war ein "Kaninchen-Reservat zwischen Ost und West" (Sontheimer
in: DIE ZEIT, 3.8.1990).
Während der "Mauerära"
stand im Westteil eine Aussichtsplattform für Touristen mit Ausblick
über den "antifaschistischen Schutzwall" auf den Todesstreifen, dorthin,
wo ehemals der Potsdamer Platz war und nun, so die Süddeutschen Zeitung,
eine "offene Wunde" der geteilten Stadt liegt (o.A., 13.11.1989).
Schlagartig änderte sich
dieser Zustand am 9. November 1989. Karl Schlögel schreibt im Feuilleton
der FAZ über den Potsdamer Platz folgendes:
"Die verödeten Zonen der
Grenzlandschaft sind über Nacht wieder zu Brennpunkten geworden."
Die Mauer war gefallen. Am
Potsdamer Platz entstand einer der ersten Grenzübergänge, und
nicht zufällig eröffnete der Regierende Bürgermeister Westberlins,
Walter Momper, am 12.11.1989 einen Grenzübergang am Potsdamer Platz,
um hier erstmals wieder Menschen von einem Teil der Stadt in den anderen
zu lassen. Mit den Worten "Der Potsdamer Platz war das alte Herz Berlins.
Es wird wieder schlagen wie früher" (DIE ZEIT, 3.8.1990), will Momper
den alten Mythos des Platzes neu beleben. Es scheint bezeichnend für
diesen Platz, daß er sofort wieder im Mittelpunkt des Geschehens
stand, als hätten ihm fast 30 Jahre der Ödnis nichts anhaben
können.
Die Wiedervereinigung Deutschlands
war die Voraussetzung für die Entwicklung neuer Pläne zum Wiederaufbau
des Platzes. Er stand sofort wieder im Zentrum des öffentlichen Interesses:
Der Potsdamer Platz wurde zum vorrangigen städtebaulichen Projekt
nach der Einigung (Bienert, 1992, S. 60), und zum "meist-umstrittenen Grundstücksgeschäft
seit dem Krieg" (Sontheimer in: DIE ZEIT 3.8.1990), verursacht durch den
Verkauf eines Großteil des Platzes an den Daimler-Konzern.
Bis heute gilt der Platz als
"Europas größte innerstädische Baustelle" (Noseleit in:
FAZ, 4.11.1996). Doch nicht nur der Potsdamer Platz, sondern ganz Berlin
ist seit der Wiedervereinigung eine Baustelle.
Die Aussichtsplattform wurde
längst entfernt, dafür bietet eine Infobox neben einem Ausblick
über die Baustelle, virtuelle Zukunftsaussichten über den Potsdamer
Platz.
Den Potsdamer Platz beschreiben
G. und G. Mattenklott in ihrem Werk "Berlin Transit" 1987 treffend als
ein Ort,
(...) der wie kaum ein zweiter
in Deutschland, vielleicht in Europa, Schauplatz des Fortunawechsels, des
schnellen Nacheinanders von Glanz und Verwüstung war (S. 137).
Die jüngste Geschichte hat
dies längst eingeholt, um es damit erneut zu bestätigen.
Am 2. und 3. Oktober 1998 konnte
bereits ein Teil des Potsdamer Platzes wiedereröffnet werden: Mit
einer Einkaufspassage, zwei Kinopalästen, einer Theater- und Musicalhalle
sowie einem Casino wird versucht, an den Ruhm alter Tage anzuknüpfen.
Ein Ort ist wieder aufgebaut, um erneut zum Verkehrsknotenpunkt, zu einem
Einkaufs-, Vergnügungszentrum, und zu einem Arbeits- und Wohnort zu
werden. In den Zeitungen ist man bemüht, mit dem Wiederaufbau des
Potsdamer Platzes den Glanz vergangener Zeiten neu heraufzubeschwören.
Die Geschichte des Potsdamer
Platzes ist symbolhaft für die Geschichte Berlins und Deutschlands.
Der Potsdamer Platz, einst "Symbol von Glanz und Größe der alten
Reichshauptstadt" (SDZ, o.A., 13.11.1989), nach dem 2.Weltkrieg "Sinnbild
(...) für den permanenten Abriß" (Mattenklott, 1987, S.136),
später der Teilung Deutschlands und Berlins (SDZ, o.A., 13.11.1989),
kann erst mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung zum "Symbol für
die Überwindung der Teilung" (Stache in: Mopo, 4.10.98) und für
"das Fallen politischer Barrieren" (SDZ, o.A., 13.11.1989) werden. Heute
versinnbildlicht er "den Aufbruch der Stadt in eine selbstbewußte
Zukunft" (Stache in: Mopo, 4.10.1998).
2. Berlin,
Stadt der Moderne
Anfang des Jahrhunderts war es
durchaus üblich, daß Zeitungen (wie zum Beispiel die Frankfurter
Allgemeine Zeitung) einen Extrateil mit Berichten aus Berlin brachten.
Feuilletonisten wie zum Beispiel
Joseph Roth, seine Nachfolger Bernard von Brentano und Siegfried Kracauer
wurden mit ihren Berlinberichten bekannt. Als beobachtende Schriftsteller,
Flaneure oder Sozialreporter entdeckten sie stellvertretend für tausende
von Lesern in ganz Deutschland die Stadt Berlin und vermittelten mit ihren
Texten ihre Sicht von der Hauptstadt.
Technik und Verkehr sind eines
der Hauptthemen, die von einem Teil der Feuilletonschreiber mit wechselnden
Gefühlen beschrieben werden.
Zu der historischen Situation,
in der diese Feuilletons geschrieben wurden, soll hier angemerkt werden,
daß Berlin seine Einwohnerzahl von 400.000 im Jahre 1850 als Hauptstadt
Preußens schon 70 Jahre später durch erhebliche Zuwanderungsgewinne
und die Eingemeindung der umliegenden Dörfer und Städten zu vier
Millionen verzehnfacht hat (Weltgeschichte, S.81). Mit dem Bevölkerungswachstum
geht auch ein Wachstum von Technisierung, Verkehr und Ausbau der Industrie
einher. Es fand eine Modernisierung in allen Bereichen statt, die es in
diesem Maße in der Geschichte bisher noch nicht gegeben hatte. Künstlerischen
Ausdruck fand diese Entwicklung in den zahlreichen Stilrichtungen der Zeit,
wie dem Naturalismus, dem Jugendstil, dem Symbolismus, dem Expressionismus
und der neuen Sachlichkeit.
Doch zurück zum Feuilleton:
Joseph Roth beschreibt in seinem Text "Bekenntnis zum Gleisdreieck" (Frankfurter
Zeitung, 16.7.1924) eine mächtige und alles beherrschende Technik
(Scherpe, 1988, S. 88), die den Menschen "klein und schwächlich und
verloren" (Frankfurter Zeitung, 16.7.1924) erscheinen läßt.
Auch in Hans Kafkas Text "Gleisdreieck, morgens" (Berliner Tageblatt, 29.1.1929)
wird das Bild der übermächtigen Technik bestätigt. Für
ihn ist der Bahnhof "ein schwieriger Brocken fremdartigen Elementes". In
jedem Fall ist von der Technik als etwas die Rede, das dem Menschen fremd
ist.
Ganz entgegen dieser Auffassung
von Technik und Verkehr sind die Darstellungen von Autoren wie Erich Kästner
und Egon Erwin Kisch: Da wird Technik in Zusammenhang damit benutzt, auf
die 'Großstadtfähigkeit' Berlins hinzuweisen: Erich Kästner
(1989, S.137,138) beschreibt in seinem Text "Provinz Berlin" von 1928 die
Technik, hier speziell die Einführung von Straßenbeleuchtung
in Berlin, ironisch:
Die wochenlang vorher angepriesenen
Beleuchtungseffekte gerieten ausgesprochen kläglich und verursachten
eine Heiterkeit, die unbedingt notwendig war (Kästner 1989, S. 137).
Nach seinem Kommentar ist die
Beleuchtung nicht einer Großstadt angemessen, weshalb er von Provinz
spricht. Ebenso Egon Erwin Kisch (Kisch, 1985, S.382-S. 384), der in "Die
Untergrundbahn" von 1923 ein eher pessimistisches Bild vom Verkehr in der
Stadt zeichnet. Er beklagt sich darüber, daß die direkte Verbindung
von Stadt- und Fernverkehr in Berlin nicht existiert. Ironisch stellt er
fest, daß erst ein Zugunglück mit 18 Toten eine direkte Verbindung
zustande brachte, wie sie in einer Metropole üblich sein sollte. Auch
hier wird auf Provinzialität angespielt, Berlin demnach eher nicht
als Großstadt zu sehen. Erich Kästner und Egon Erwin Kisch machen
sich mit diesen Texten nicht nur über die Provinzialität der
Stadt lustig, sondern sie distanzieren sich auch von Feuilletonschreibern
wie Joseph Roth, Siegfried Kracauer oder Hans Kafka, die das Zusammentreffen
von Stadt und moderner Technik als großstädtisches Horrorszenarium
erleben.
Wenn dagegen H. Kesser bei
der Beschreibung des Potsdamer Platzes Metaphern wie Mündung, Fließen,
blühendes Lichtfarbenspiel und Goldregen-Phantasien benutzt, kann
von einer Technikfaszination gesprochen werden. Bernard von Brentano schwärmt
entsprechend vom Verkehr als einer
Bewegung der Stadt (...) strömen
die ungeheuren Kolonnen der großen Fahrzeuge, die schön in der
Masse und durch ihre Bewegung sind (zit. n.: Scherpe, 1988, S.95).
Technik und Verkehr sind in den
Feuilletontexten auf verschiedene Weise thematisiert: Entweder wird Technik
als bedrohlich erfahren, oder die Technik entspricht nicht den Erwartungen
der Feuilletonisten, oder es besteht eine Begeisterung zur neuesten Technik
und dem Verkehr.
Alle drei Wahrnehmungen von
Verkehr und Technik in der Stadt sind ein Ausdruck der Moderne. Moderne
ist hier definiert durch Technik und Verkehr. Beide sind das Kriterium
für (Roth, Kafka, von Brentano, Kesser) beziehungsweise gegen (Kästner,
Kisch) Berlin als moderne Stadt.
2.1 Der Potsdamer
Platz: Verkehrsknotenpunkt in den 20er und 30er Jahren
Die Entstehungsgeschichte des
Potsdamer Platzes (vgl. Kap. 1) ist eine Geschichte, die "von Anfang an
mit Temposteigerung, Verkehr und Eisenbahn verknüpft" ist (Mattenklott,
1987, S.115).
Der Potsdamer Platz war ein
Ort, an dem zu jener Zeit ein reger Austausch von Menschenmassen mit und
ohne Auto, in Bussen, S- und U-Bahnen stattgefunden hat. Es sind Menschen,
die umsteigen, die ein- und aussteigen, die hier leben, einkaufen, arbeiten
oder sich vergnügen. Als Verkehrsknotenpunkt ist dies ein Ort, an
dem Tempo vorherrschendes Merkmal ist. Verkehr steht hier gleichbedeutend
mit Tempo.
In den Feuilletons wird das
deutlich:
Hans Kafka, "Die Stadt im Sommer-
Potsdamer Platz, abends", schreibt im Berliner Tageblatt vom 12.6.1928:
Ein Viertel der Bevölkerung
passiert um einviertelsieben Uhr abends diesen Platz. Herden von Automobilen
(...). Anders sind die Autobusse, die Massen von Menschen kollektiv zusammenhalten,
(...). Aber über diesen Platz allein bewegen sich pro Minute doch
einhundertfünfzig stürmisch vorwärts. Still stehen eigentlich
nur die Zeitungsmänner (...).
Hermann Kesser, "Potsdamer Platz",
äußert sich zum Geschehen auf dem Platz in Die neue Rundschau
von 1929:
Der Geschäftswind des
winterlichen Sieben-Uhr-Abend-Verkehrs. Reglementarische Wogen branden
über den Potsdamer Platz, Menschen und Wagen fließen und stehen:
Glieder einer geometrischen Gleichung, die pausenlos aufgestellt und gelöst
wird (...). Es wird kaum gesprochen auf dem Asphalt. Es wird nur gefahren
und gegangen.
Des weiteren nennt Fred Hildenbrandt
im Feuilleton des Berliner Tageblatts vom 8.8.1924 den Potsdamer Platz
ironisch und sehr treffend einen Zirkus. Er schildert in seinem Text das
Treiben am Potsdamer Platz und damit den Versuch der Stadt, mit neuen Verkehrsregelungen
dem dort herrschenden Chaos zu begegnen. Glaubwürdig ist seine Ironie
deshalb, weil er seine Übertreibungen selbst zugibt, und damit erst
recht darauf besteht, daß "dieser Zirkus ein unverständliches
Spektakelstück" ist. In seinem Artikel heißt es weiter:
Der Platz ist aus den Fugen,
und der Verkehr ist aus den Fugen, die Autos taumeln betäubt in die
engen Balkengassen, Gäule stieren entsetzt ins Verderben, (...) Motorräder
schwanken sinnlos vom Fürstenhof zu Josty und von Josty zum Fürstenhof
und finden den Ausgang nicht, Radfahrer stoßen wie wahnsinnige Libellen
von Tschako zu Tschako, Menschen, die in den Strudel geraten, sinken von
einer Sipobrust zur anderen Sipobrust und mitten in diesen Inseln der verlorenen
Schiffe leimt sich zuweilen ein Schub Autos, Wagen, Pferde und Räder
auf ewig aneinander. (...) fährt alles, was da fährt, falsch.
Geht alles, was da geht, falsch.
Fred Hildenbrandt erlebt den
Verkehr als eine Mühle, in die der Verkehrsteilnehmer hineingedreht
wird und am anderen Ende bleich, gealtert, zerrieben oder gar nicht mehr
herauskommt. Verkehr wird hier als gewalttätig und nicht kontrollierbar
dargestellt. Dennoch ist er kein abstraktes Monstrum, denn der Autor bestimmt
die Verursacher des "Zirkus" am Potsdamer Platz: Er nennt die Fußgänger,
die sich nicht an die Regeln halten, doch ist für ihn auch klar, es
sind vor allem die Autos, die zu schnell fahren und damit viele Unfälle
verursachen. Fred Hildenbrandts Vorschlag zur Regelung des Verkehrs ist
es, mit strengen Disziplinarstrafen langsames Fahren der Automobile durchzusetzen.
Technik, Verkehr und Tempo sind allgegenwärtig und beherrschend.
Die Feuilletonschreiber sind davon beeindruckt, fasziniert und auch verängstigt.
Dem verleihen sie Ausdruck, unter anderem durch den Gebrauch von Naturmetaphern:
"Der Platz (...) verwandelt sich unter den Augen der Poeten ebenfalls
zur Landschaft" (Bienert, 1992, S.65). Alfred Holitscher bezeichnet den
Potsdamer Platz als "eine Schlucht, ein Canyon, ein Felsenbett, das sich
der Großstadtverkehr aus den Häusermassen herausgekerbt hat"
(Vossische Zeitung, 4.9.1920). Was sich auf dem Potsdamer Platz bewegt,
nennt Hans Kafka (Berliner Tageblatt, 12.6.1928) Automobilherden, Tiere
und Zentauren: "(...) ihr Kopf ist menschlich und ihr Körper eine
rasende Maschine (...)". Der Bezug auf Kopf und Rumpf als getrennt existierenden
Teilen verschärft das Unheimliche und Horrorartige des Szenariums.
Von "brandenden Wogen" ist bei Hermann Kesser die Rede (Die neue
Rundschau, 1929), also hier auch Naturbegriffe, um das Spektakel des Platzes
zu charakterisieren.
Natur, als groß, wild und ungezähmt verstanden, wird hier
als Metapher für technisches Geschehen benutzt. Eigenschaften der
Natur werden auf die Technik übertragen. Wenn Fred Hildenbrandt in
seinem Artikel "Zirkus Potsdamer Platz" (s.o.) von "Autos, die betäubt
taumeln" spricht, so wird von Technik gesprochen, die der Mensch zwar geschaffen
hat, aber die vom Menschen nicht mehr beherrscht werden kann. Er ist ihr
hilflos ausgeliefert, er ist klein und verschwindet inmitten dieses gewaltigen
technischen Treibens. Ängste und Horrorvisionen entstehen in den Köpfen,
die dieses zu beschreiben versuchen.
Die Natur muß hier mit der Technik konkurrieren. Hans Kafka
macht dies deutlich, indem er ironisch von abendlichen Naturwundern auf
dem Potsdamer Platz berichtet: Mit Abendrot, -grün, und -gelb meint
er die Ampel am Platz und keine Naturereignisse (Berliner Tageblatt, 12.6.1928).
Technik hat die Natur verdrängt: "Schüchtern und verstaubt werden
die zukünftigen Gräser zwischen metallenen Schwellen blühen."
(Roth in: Frankfurter Zeitung, 16.7.1924).
Der Verkehr mit der Verkehrsregelung, der ersten Ampelanlage Europas
und den immer neu entstehenden Baustellen, die für die etlichen Versuche
stehen, den Verkehr umzuleiten und zu beruhigen, prägen den Potsdamer
Platz, produzieren ein stetes Chaos und bestimmen das hier herrschende
Tempo (Bienert, 1992, S. 62).
Entsprechend wurde der Potsdamer Platz von Passanten als unüberschaubar
und verwirrend empfunden, und das trotz markanter Bauten wie dem zurückgesetzten
Potsdamer Bahnhof, dem Vergnügungspalast 'Haus Vaterland' mit seiner
Kuppel, der alten Torbauten Schinkels an der Grenze zum Leipziger Platz,
des Columbus-Hauses, eines der ersten Hochhäuser der Stadt, und des
berühmten Verkehrsturms, der seit 1924 in der Mitte des Platzes steht
(Bienert, 1992, S.62 - s. Abbildung).
Michael Sontheimer nennt die Anordnung der Bauten (DIE ZEIT, 3.8.1990)
"asymmetrisch und willkürlich". Die Tatsache, daß "stabile Raumkoordinaten
(...) inmitten der Dynamik des Verkehrs kaum wahrgenommen" wurden (Bienert,
1992, S. 62), wird von Bienert als "Auflösung von Räumlichkeit"
bezeichnet. Als Hinweis dazu führt er einen Reiseführer aus dem
Jahr 1912 an (S.63), der Berlinbesucher zum Potsdamer Platz schickt, um
sie eben diese Auflösung von Räumlichkeit erfahren zu lassen.
Der Reiseführer empfiehlt seinen Lesern, "in den fluktuierenden Raumpunkten
gleichsam zu baden", so Michael Bienert. Diese Erfahrung könne noch
intensiviert werden, indem man die Szene nochmal bei Nacht im Lichterglanz
auf sich einwirken lasse.
Die durch das Verkehrstreiben am Potsdamer Platz entstehende Dynamik
bewirkt eine Desorientierung der Menschen. Sie entspricht einer Desorientierung,
die viele Menschen in bezug auf die ganze Stadt wahrnehmen (ebd.,
S.62). Daß diese auch heute noch andauert, dazu meint Harald Jähner
ironisch zur Eröffnung der Arkaden am Potsdamer Platz im Feuilleton
der Berliner Zeitung (5.10.1998):
"Der Weg nach Hause durch die
neue Stadt gestaltet sich etwas schwierig. Zahllose Bauzäune versperren
den Weg. Eine alte Dame mit gekrümmtem Rücken findet den Weg
mit der Entschlossenheit der Trümmerfrauengeneration."
Sehr passend erinnert auch David
Wagner im Tagesspiegel vom 23.12.1998 an eine bekannte Filmszene aus Wim
Wender's "Himmel über Berlin" von 1987:
'Ich kann den Potsdamer Platz
nicht finden', sagt Curt Bois als er im "Himmel über Berlin" über
ein leeres Feld im Brachland vor der Mauer spaziert.
Also auch im Dezember 1998 beherrscht
diese Orientierungslosigkeit noch den Platz, was David Wagner folgendermaßen
kommentiert:
Käme er heute an gleicher
Stelle aus der schon lange wiedereröffneten U-Bahnstation Potsdamer
Platz, er hätte es kaum leichter mit seiner Suche.
2.2 Wandel und
Visionen: Der Potsdamer Platz damals und heute
Der Potsdamer Platz ist in den
20ern und 30ern ein Ort ohne Vergangenheit, denn seine Geschichte, die
noch keine 5o Jahre alt ist, ist eine Geschichte der Moderne. Keine historischen
Bauten erinnern an Vergangenes, alles, was hier steht, ist erst entstanden
(vgl. Kap. 2). Das wiederum scheint sich zu verändern und nicht von
langem Bestand zu sein. Bewirkt wird das durch die häufige Umgestaltung
des Potsdamer Platzes (s.o./Bienert, 1992, S.62) durch die Baustellen und
den permanent zirkulierenden Verkehr, die insgesamt den Eindruck von Tempo
und ständigem Wandel des Platzes hervorrufen.
Das bewirkt auch die Reklame,
die in kurzer Zeit schnelle Botschaften, beleuchtet oder nicht, verbreitet
und dominant das Aussehen des Platzes mitgestaltet (Sontheimer in: DIE
ZEIT, 3.8.1990).
Diese Merkmale machen den Potsdamer
Platz "zum Sinnbild immer fortwährender Aktualität, die jede
Vergangenheit spurlos auslöscht" (Bienert, 1992, S.62).
Angst vor diesem ständigen
Wandel deutet sich in Joseph Roth's Vorstellung, Reklame als Zeichen von
Chaos und Verfall zu sehen (Scherpe, 1988, S.85) oder seinen Darstellungen
im "Bekenntnis zum Gleisdreieck" an (Frankfurter Zeitung, 16.7.1924).
Der Potsdamer Platz scheint
ein Beleg für Bernard von Brentanos Annahme zu sein, Berlin sei eine
Stadt der "Geschichtslosigkeit" (Brentano zit. n.: Scherpe, 1988, S.96).
In diesem Sinne spricht auch
Siegfried Kracauer vom "Verlust an Erinnerungen" (Kracauer zit. n.: Scherpe,
1988, S.102), wenn er auf das Abschlagen alter Ornamente an den Hausfassaden
verweist.
Der damit verbundene Wandel
ist neben dem Verkehr ebenfalls ein Ausdruck von Tempo. Michael Bienert,
der Tempo als das Hauptwahrzeichen des Berlins der 20er Jahre deutet (S.66),
definiert das Topos nicht einfach als Bewegung oder Veränderung, sondern
als Dynamik ohne Richtung und Ziel oder mit ständig wechselnden Zielen
(S. 69). Unter dem Schlagwort Tempo sieht Michael Bienert nicht nur den
Potsdamer Platz im steten Wandel, vielmehr definiert er die Stadt als permanente
Veränderung - hier mit einem Satz Karl Schefflers: "Berlin
sei dazu verdammt immerfort zu werden und niemals zu sein" (Scheffler zit.
n.: Bienert, S. 68).
Vielleicht ist es eben diese
Unbeständigkeit, die dazu führt, daß man leichter an zukünftige
Veränderungen glaubt. So lassen sich die zahlreichen Utopien erklären,
die im Zusammenhang mit dem Potsdamer Platz entstanden sind und noch entstehen.
Sie verdeutlichen, daß Visionen Ausdruck dieses Wandels sind.
Eine Umfrage im Feuilletonteil
der Vossischen Zeitung vom 29.8.1920 'Wie sieht der Potsdamer Platz in
25 Jahren aus?', bietet utopische Perspektiven. Karl Scheffer schildert
die Begegnung von vier Männern, die im Cafe Josty zusammensitzen und
über das Aussehen des Potsdamer Platzes in 25 Jahren spekulieren.
Die ersten beiden erzählen von entgegengesetzten Zukunftsvisionen.
Die eine handelt von einem neuen, noch moderneren Potsdamer Platz, die
andere von einem verfallenen, nur noch von der Natur beherrschten Ort.
Der dritte Mann ist der einzige, der an keine große Veränderung
in 25 Jahren glaubt, während der vierte Stellung nimmt zur eigentlichen
Intension der Frage, nämlich "Wie wird in 25 Jahren Berlin aussehen?".
Karl Scheffer geht sogar so weit, in dieser Frage die Zukunftsfrage Deutschlands
und Europas zu sehen.
Arthur Holitscher, als zweiter
Befragter der Vossischen Zeitung (4.9.1920), sieht in zukünftigen
Entwicklungen nur noch den einen Zweck, Nutzen zu erfüllen. So wird
die Freifläche des Potsdamer Platzes zum Friedhof, und die alten klassischen
Torbögen von Schinkel sind zu Zeitungskiosk, Telephonzelle und Wartehaus
umfunktioniert.
Auch Hermann Kesser hat Visionen
vom Potsdamer Platz (Die neue Rundschau, 1929). Diese handeln zwar ebenfalls
von Fortschritt und Technik, sind aber gleichzeitig Träger politischer
Aussagen. Inmitten des Verkehrstreibens auf dem Potsdamer Platz sieht er
Fortschritt, technische Entwicklungen und Wandel als Mittel des Kapitalismus
wirken:
Seine (...) Sorge ist die Schaltung
der merkantilen Bewegung. Technik: Ihm ein Mittel, die Bewegung zu steigern.
Er arbeitet rastlos an der Steigerung des Tempos und des Verkehrs (...).
Als seinen Feind betrachtet Kesser
den Kapitalismus, den er als Gott Handel und als Diktator bezeichnet. Kessers
unmittelbare Erfahrung mit dem damals neuen Medium Radio bringt ihn an
diesem Ort zur Auffassung, daß die Verbreitung von Informationen
Wahrheiten produziert, und diese erzeugten Macht. Die damit verbundenen
Gefahren macht er sich bewußt:
Es wird nicht mehr lange dauern,
und ein einziger Sprecher könnte die Macht haben, als unwiderstehlicher
Kraftstrombesitzer in wenigen Minuten mit seinem Wort in den Ohren aller
Erdbewohner zu sein.
Die Frage nach dem Beherrscher
des Mediums dränge sich ihm auf. Das Wort bekäme eine wichtigere
Bedeutung als jemals zuvor, und hier erkennt der Autor die Chance, mit
den Mitteln der Sprache zu wirken:
Unsere Mittel: Sprach- und
Kunstformen von letzter konstruktiver Eindeutigkeit, klar und durchsichtig
gefügt. (...) Formen (...) werden Besitz der Massen werden, werden
überzeugen als eindeutige geistige Substanz.
So kommt Kesser am Ende seiner
Visionen dann doch zu der positiven Überzeugung: dem Glauben an eine
Zukunft von einer sozialen (er meint kommunistischen) Gesellschaft, die
mit der Technik verbrüdert ist, einer Gesellschaft, der alle Möglichkeiten
des technischen Fortschritts offen stehen und die über den Kapitalismus
gesiegt hat: "Eines Tages wird das Bild der sozialen Wahrheit am Himmel
stehen. Die Technik wird ihre Schwester sein." Am Ende dieser Vision ist
seine Angst besiegt.
Der Autor setzt sich ganz bewußt
dem Treiben auf dem Potsdamer Platz aus. Er bezeichnet ihn als einen Ort,
der "Wahrheiten einhämmert. Und Ereignis ist", und somit ein Raum,
an dem man bewußt Visionen erleben kann.
Außerdem fällt auf,
daß viele Feuilletonisten in ihren Visionen über den Potsdamer
Platz wieder die Natur als Vergleich heranziehen. Dabei wird nicht mehr
die Technik mit naturbezogenen Metaphern umschrieben (s.o.), sondern die
Natur selbst ist als Zukunftsperspektive wieder Gegenstand der Betrachtung:
So entwirft Karl Scheffler in der Vossischen Zeitung vom 29.8.1920 folgende
Zukunftsvision vom Potsdamer Platz:
Im geborstenen Asphaltpflaster
werden Gras und Strauchwerk wuchern. Keine Bahn wird mehr fahren, (...)
Und des Nachts wird kein Licht brennen.
Technik und Verkehr sind verschwunden,
der Platz ist wieder öde und bedeutungslos: "Von Ratten und Mäusen,
die aus dem verwilderten Tiergarten kommen, wird es wimmeln." Hier ist
nun ein pessimistisches Antibild zu den oben beschriebenen Technikbildern
aufgezeigt. Die Natur überdauernt Technik und Verkehr.
62 Jahre später ist diese
Vision Wirklichkeit: Der Potsdamer Platz ist "ein Niemandsland" (Mattenklott,
1987, S. 136) geworden, auf dem die Natur die wenigen noch übrig gebliebenen
Spuren vom einstigen Ruhm überwuchert hat. Wieder hat sich die Natur
den Raum zurückerobert, aber diesmal nicht nur als Vision. Hier zeigt
sich, daß sie die wirkliche Siegerin über den menschlichen Fortschritt
bleibt:
Erstmals sind hier die natürlichen
Dinge - die Kaninchen, die Mauersegler, Nebel und Wiese - nichts als sie
selbst, keine Metaphern. (ebd.)
Schön beschrieben ist das
in dem Gedicht "Naturschutzgebiet" von Sarah Kirsch:
Die weltstädtischen Kaninchen
Hüpfen sich aus auf dem Potsdamer Platz
(...)
Die Nebel steigen
Aus wunderbaren Wiesen und Sträuchern
Kaum sperrt man den Menschen den Zugang
Tut die Natur das ihre durchwächst
Noch das Pflaster die Straßenbahnschienen
(Kirsch: Erdreich,
1982 zit. n.: Mattenklott 1987, S. 136).
Dieses Gedicht verweist auch
auf den Wandel des Platzes, doch scheint es umgekehrt jetzt keine Träume
von einer Wiederauferstehung zu geben, im Gegenteil: die Vorstellung vom
einstigen Treiben, das auf dieser Grünfläche stattgefunden haben
soll, scheint nicht mehr möglich:
Wie soll ich angesichts dieser Wiesen
Glauben was mir mein Großvater sagte
Hier war der Nabel der Welt
(ebd.).
Diese Träume werden erst
wieder mit dem Fall der Mauer 1989 möglich. Jetzt kann der Potsdamer
Platz wieder ein "Ort für Visionen" (Kugler/Helwerth in: taz, 13.11.1989)
werden.
"Die einzige Weltstadt, die
Deutschland je hatte, ist aus ihrer Normalität katapultiert - nur
weiß niemand, wohin die Reise geht." (Kleine-Brockhoff, Kruse, Sontheimer
in: DIE ZEIT, 17.11.1989) Sofort entbrennen heftige Diskussionen über
die Zukunft Berlins: zum Beispiel ist sich Wolf Jobst Siedler sicher, daß
Berlin seinen Hauptstadtanspruch verwirkt hat (DIE ZEIT, 24.11.1989). In
György Konrad's Rede zur Einweihung des Debis-Gebäudes am Potsdamer
Platz äußert der Sprecher den Wunsch, Berlin "zu einer Plattform
des Ideenaustausches werden" zu lassen (Berliner Zeitung, 25.10.1997).
Vorraussetzung dafür sei allerdings, Berlin zu einer "so verlockenden
Großstadt zu machen, daß es die Denker und Künstler hierher
zieht", denn Geistesgrößen, so György Konrad, seien notwendig
für eine Weltstadt. Seine Zukunftsvision von Berlin ist der Traum
von einer multikulturellen Stadt, deren Bürger tolerant, aufgeschlossen,
neugierig und mit einem breitgefächerten Interesse einer Vielfalt
von Fremdem und anderen Kulturen gegenüberstehen. Dann wäre Berlin
Weltstadt.
Damit einher gehen die Auseinandersetzungen
um die Zukunft des Potsdamer Platzes, die sich in den Feuilletonteilen
der Tageszeitungen von der Wende bis heute finden. Vom Mauerfall an wurde
der Potsdamer Platz von Großkonzernen und Politikern für einen
Platz von zukünftiger Bedeutung gehalten und von Stadtplanern als
"Keimzelle" und als "neue Mitte zwischen den Zentren der früheren
Halbstädte" verstanden (Bienert, 1992, S.60). Wieder einmal ging es
dabei nicht um die Zukunft des Potsdamer Platzes allein, sondern um die
Zukunft ganz Berlins (ebd.).
A. Kuglers und U. Helwerths
Vision einer "verkehrsberuhigte(n) Grünzone" auf dem Potsdamer
Platz in der taz vom13.11.1989 scheint ein Vorbote für die bald folgenden
Auseinandersetzungen um die Bebauung des Platzes zu sein, die auch wieder
"stellvertretend für die Zukunft der gesamten Stadt" stehe (Hoffmann-Axthelm
in: taz, 21.6.1990) .
Klaus Hartung thematisiert
die Problematik in der taz vom 9.4.1990: "Der Streit geht um das Stadtgrün,
die Baudichte, die Verkehrsplanung und die städtebauliche Bedeutung
der Plätze". Das Bauprojekt Potsdamer Platz ist zum politischen Bauskandal
und zum Medienereignis geworden. In vier Folgen der taz äußert
sich der Städtebaukritiker und Stadthistoriker Dieter Hoffmann-Axthelm
zur Bebauung des Potsdamer Platzes und bietet Vorschläge zur Nutzung
der Fläche. Seine Vision vom zukünftigen Platz ist ein Ort, der
"ein konkretes Stück sozialer und politischer Vermittlungsarbeit (...)
leisten könnte" (Teil 1: 9.6.1990) und der die historische Nachfrage
mit einschließe (Teil 3: 16.6.1990), denn:
Die Stadt ist da. Straßen,
Plätze, Grundstücke, Hausnummern, immer noch sogar auch einzelne
Häuser sind vorhanden. Die Denkmalspflege redet mit, die Geschichte
auch (...) . (Teil 4: 21.6.1990)
Um dies zu verwirklichen, müsse
eine Parzellierung stattfinden, die den "verschiedenen Ansprüche(n)
an das Gelände mindestens: Zentrum, Funktionsmischung, Verkehrsknotenpunkt,
Geschichtsort" gerecht wird, und "einen Mittelwert (...) zwischen historischem
Bestand und konstruierten Bedingungen" schafft (ebd.).
Um den Wandel und die Bewahrung
historischer Überbleibsel am Potsdamer Platz geht es auch heute noch:
der Streit um einen Wachturm und einen Teil der alten Mauer fällt
zugunsten des Landes Berlin aus, das die letzten noch am Originalplatz
verbliebenen Zeugnisse deutscher Nachkriegsgeschichte am Potsdamer Platz
abreißen läßt (Berl. Z., o.A., 21.4.1999).
Einen Kommentar zum Thema Architektur
und schneller Wandel gibt Gustav Seibt in der Berliner Zeitung vom 6.12.1997:
Der Potsdamer Platz, (...)
ist jetzt schon 'out', und was fertig wird, zeigt die immer besonders quälende
Häßlichkeit der Mode vom letzten Jahr.
Mit der fortschreitenden Fertigstellung
des Platzes wird er mehr und mehr als eine Stätte des Aufbaus gesehen.
Thomas Noseleit spricht in der FAZ vom 4.11.1996 von "einem Symbol für
den Aufbruch ins dritte Jahrtausend" und Rainer Stache nennt das Projekt
Potsdamer Platz ein "Symbol für den Aufbruch der Stadt in eine selbstbewußte
Zukunft" (Berliner Morgenpost, 4.11.1998).
Kritischer äußert
sich Stefan Melle (Berliner Zeitung, 6.7.1998). Drei Monate vor der Eröffnung
der Arkaden auf dem Potsdamer Platz stellt er die Frage, ob dies das "Gesicht
Berlins im 21.Jahrhundert?" sei und bedauert, daß in dieser "Stadt
der Zukunft" die sozialen Aspekte Arbeits- und Lebensplätze ausgespart
blieben.
3. Der Potsdamer
Platz, Ort der Moderne in Vergangenheit und Gegenwart
Rückblickend auf die 20er
Jahre bezeichnet Adolf Heilborn als Zeitzeuge den Potsdamer Platz als das
"Herz des Großberlins von heute" (Mattenklott, 1987, S. 115). Der
Potsdamer Platz stellte für viele die "vollendete Verkörperung
der modernen Großstadt" dar (ebd).
Auch wenn in den Feuilletontexten
der 20er und 30er Jahre verschiedene Teile Berlins Symbolwert besitzen
und dabei Technik und Verkehr als Perspektiven einer modernen Großstadt
im Mittelpunkt stehen, beispielhaft der Essay von Joseph Roth über
das Gleisdreieck (Frankfurter Zeitung, 16.7.1924), so scheinen doch in
erster Linie am Potsdamer Platz alle Merkmale dafür zusammenzutreffen,
was man damals unter einer modernen Stadt verstand.
Im Potsdamer Platz der 20er
und 30er potenzieren sich die Merkmale Verkehr und Technik symbolhaft für
ganz Berlin. Beispielhaft dafür sind die Berichte der Autostaus, bei
denen immer von Chaos und Desaster am Potsdamer Platz die Rede war.
Die dialektische Auseinandersetzung
um Technik und Verkehr wird nun fortgeführt und konzentriert (s. Kap.
3.1). Die Betrachtungen über Technik und Verkehr am Potsdamer Platz
und in anderen Teilen der Stadt waren gleichzeitig Diskussion über
den modernen städtischen Platz und die moderne Stadt überhaupt.
Die Ballung von Technik und Verkehr auf dem Potsdamer Platz machten ihn
zu einem modernen Ort, der, auf die ganze Stadt bezogen, natürlich
auch das moderne Berlin verkörperte. Berlin war gerade deshalb längst
zur Metropole geworden.
Die politische Seite dieser
Situation bedeutete damals, daß Berlin Größe verkörperte
und Deutschland damit wieder etwas darstellte. Berlin konnte sich mit anderen
europäischen Hauptstädten messen, was auch dazu beitrug, über
den Gesichtsverlust des Ersten Weltkrieges hinwegzukommen. Heute, über
50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, ist Deutschland wieder vereint, ist
Berlin wieder groß und auf dem besten Weg, erneut moderne Metropole
zu werden. Das verdichtet sich wiederum am Potsdamer Platz. Hier finden
seit der Wende neben umfangreichen Bauarbeiten Machtkämpfe um Geld
und Einfluß zwischen Politik und Investoren statt, beispielhaft der
Wettstreit zwischen den zwei größten Investoren Sony und Debis
um den höchsten Turm (Aulich in: Berl. Z., 21.4.1999).
Was sich am Potsdamer Platz
an Verkehr in der Vergangenheit darbot, war Geschwindigkeit, eine Phänomen,
das neu in der Geschichte war. Tempo und schneller Wandel verschmolzen
ineinander (s. Kap. 3.2), und sind somit ergänzendes Merkmal für
Berlin als Stadt der Moderne. So sieht das auch Michael Sontheimer in seinem
Rückblick "Berlin, Potsdamer Platz" in der ZEIT vom 3.8.1990.
Sein (der Potsdamer Platz -
Anm. d. Autorin) Leitmotiv hieß Tempo, Tempo. Damit fand Berlin Aufnahme
in die exclusive Familie der Weltstädte, als die kleine, freche Schwester
von New York, London und Paris.
Er schreibt weiter: "Auf dem Platz
mischten sich die sozialen Milieus": neben den Berlinern, die den Potsdamer
Platz mit Verkehrsmitteln überquerten beziehungsweise dort umstiegen
oder einkauften, tummelten sich Touristen und Provinzler in den zahlreichen
Vergnügungslokalen, Künstler und Literaten saßen im Cafe
'Josty', und nachts gingen Prostituierte, Stricherjungen und Kokainhändler
ihren Geschäften nach. Das Treiben auf dem Platz verkörperte
das Treiben einer modernen Großstadt.
Der Potsdamer Platz verdichtete
auch aus dieser Sicht die Merkmale einer modernen Stadt in sich, so war
er auch aus diesem Blickwinkel ein Wahrzeichen des modernen Berlin (Bienert,
1992, S. 63) und ein Ort der Moderne.
Der Potsdamer Platz wird also
als eine Art Mikrokosmos Berlins gesehen. Hier finden sich Ängste
und Euphorien wieder, die die moderne Großstadt betreffen, ausgelöst
vom schnellen Bevölkerungszuwachs, einer zunehmende Technisierung
und einer daraus resultierenden Desorientierung. Umgekehrt wurde auch verdeutlicht,
daß das Geschehen auf dem Platz und die Empfindungen der Menschen
zu dem Platz damals und heute sich wiederum alle auf Berlin übertragen
lassen.
Ist der Potsdamer Platz auch
in den 90er Jahren wieder Ausdruck des modernen Berlin und des modernen
Deutschlands überhaupt?
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands
erlangt Berlin als neue (alte) Hauptstadt wieder Bedeutung. Zeitgleich
wird auch der Potsdamer Platz aus seinem 'Dornröschenschlaf' erweckt
und ist sogleich Raum für Spekulationen und Visionen, die von einem
modernen, zukunftsorientierten, hoch technologisierten Berlin auf diesem
ehemals ruhmreichen Platz sprechen (s. a. Kap. 3.2).
Robert Kaltenbrunner meint
am 21.1.1999 in der taz:
Kein anderes Projekt, kein
anderer Ort ist so sehr zur Metapher für das Vörwärtsstreben
der deutschen Hauptstadt geworden, wie der Potsdamer Platz.
Damit ist klar, die Sehnsucht
nach einem neuen, glanzvollen, modernen Berlin scheint wieder auf den Potsdamer
Platz projeziert zu werden - immerhin ist die Realisierung dieser Vision
auf eine kleine und begrenzte Fläche sehr viel einfacher und überschaubarer
als auf Berlin als Großprojekt insgesamt.
So ist denn auch im Konsens
vieler neuerer Feuilletons von Aufbau (s.Kap.3.2) die Rede, und
gern werden im Laufe der Fertigstellung des Platzes Vergleiche zum Ruhm
vergangener Tage gezogen. Dabei schließt die Hoffnung, den Potsdamer
Platz erneut als "den Platz der Plätze" präsentieren zu können
(Bienert, 1992, S. 60) den Wunsch ein, Berlin wieder zur repräsentativen,
modernen und weltoffenen Metropole zu machen.
Es bleibt, ironisch zu fragen,
was Berlin dann ohne den Potsdamer Platz wäre?
3.1 Fazit
Der Potsdamer Platz als Sinnbild
und Metapher für die ganze Stadt, diesem Motiv begegnet man häufig
in Artikeln, Texten und Aussagen der 20er und 30er Jahre und auch der 90er
Jahre wieder. Oft steht dabei der Potsdamer Platz nicht nur synonym für
Berlin, sondern auch für Deutschland und Europa.
Bemerkenswert ist, daß
der Potsdamer Platz in allen Äußerungen über ihn kein feststehendes
Gebilde ist. Das zeigen die vielen, immer unterschiedlichen Feuilletontexte
der 20er und 30er Jahre. Sie geben trotz der gleichen Ausgangsmomente,
nämlich Verkehr und Technik kein übereinstimmendes, festes Bild
und stellen immer nur ein sehr abstraktes und persönliches Bild des
Verfassers davon dar. Aber in der Verbindung von beidem gibt es einen gemeinsamen
Nenner, sein Kennzeichen: Berlin als eine Stadt der Moderne zu bestimmen.
Das Ergebnis ist ein Hinweis
darauf, daß die ganze Diskussion um den Potsdamer Platz und um Berlin
eine Frage dafür sein kann, was überhaupt wahrgenommen wurde,
und was man darin sehen wollte. Die Feuilletonisten der Weimarer Republik
haben sicher einen Großteil ihrer ganz persönlichen Erfahrung
und Einstellung zur Großstadt darin zum Ausdruck gebracht. Vielleicht
war die Diskussion um Technik, Moderne und Metropole auch einfach 'chick'
und modern, oder man hat sich aus persönlichen oder politischen Gründen
nur allzu gern gängigen Großstadtbildern hingegeben, und damit
im Potsdamer Platz die Verkörperung des modernen Berlin gesucht.
In neueren Artikeln ist neben
einem geschichtlichen Rückblick und dem Streit, was aus dem Potsdamer
Platz werden soll und geworden ist, der Wunsch dominant, besonders an diesem
Ort an die glanzvollen Zeiten anzuknüpfen. Vergleiche und euphorische
Beschwörungen abstrahieren den Potsdamer Platz wieder als Ausdruck
von Tempo, Verkehr und Moderne, was erneut dem Versuch entspricht, Berlin
mit Schlagwörtern als Stadt der Zukunft zu bezeichnen und zur Metropole
zu stilisieren.
Jetzt, da wieder ein Großteil
des Platzes unter modernsten Aspekten aufgebaut wurde, ergibt sich die
Frage, inwieweit Vergleiche mit seiner Situation in den 20er und 30er Jahren
standhalten und heute wieder von dem "Platz der Plätze" gesprochen
werden kann, oder ob alles mehr auf Propaganda aus politischem oder marktwirtschaftlichem
Interesse beruht?
Doch bis jetzt ist der Platz
noch in vielen Teilen eine Baustelle und verkörpert, so wie einst,
gerade deshalb eine Mischung von ständigem Wandel und Anhäufung
moderner Technik. Schon damals hatte diese Situation Feuilletonschreiber
zu Zukunftsvisionen inspiriert. Es bleibt zu hoffen, daß er heute
zu Visionen inspiriert, die wieder Platz für den Menschen und die
Natur lassen.

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